Von Michael Wiedorn
Ein etwa siebzehnjähriger, dunkelblonder Junge will sich ohne Spiegel selbst erblicken. Er läuft durch große, unwohnliche Speicher, in denen Krempel herumsteht. Der Lauf beschleunigt sich immer mehr. Es wirkt fast, als würde er von einem Feind verfolgt. Er rennt an einer langen Reihe von grauen Stellwänden vorbei. Er rennt nicht geradeaus, sondern im Zickzack. Bei jedem Paravent wechselt er die Richtung, ob nach rechts oder nach links. Bei Höchstgeschwindigkeit meint er seinen Anblick erhaschen zu können.
Ein Geschwisterpaar. Der groß gebaute Bruder hat schwarzes Haar und einen langen Bart. Die Schwester ist blond. Jeder von beiden hat noch einen zweiten Körper, der völlig gleich aussieht und ein eigenes Leben führt. Beim Anblick der Schwester denke ich „Schottland-Budapest“ und blicke dabei auf einen alltäglichen, mitteleuropäischen Altbauhinterhof. Stammt sie aus Schottland und lebt jetzt in Budapest? Schotten sind kaum von Ungarn zu unterscheiden.
Auf einem Triptychon sehe ich auf den Seitenflügeln den Bruder in seinen zwei Gestalten seine zwei Leben führen. Eine Gestalt des Bruders sitzt an einem Tisch und ißt. Eine Verkörperung läuft über eine Wiese hinter einem Ball her und so weiter. Auf dem größeren Mittelteil erstreckt sich eine dunkle Leere. Hier rührt sich etwas fast unmerklich. Einer der beiden Brudergestalten versucht sich aus der sich langsam bewegenden Leere eine neue Gestalt zu geben, aber vergebens. Wußten die beiden Brudererscheinungen voneinander oder die beiden Erscheinungen der Schwester?
Eine Bruderfigur hält sich in riesigen Speicherhallen unmittelbar am strömenden Wasser auf. Die Russen sind hinter ihm her. Der Körper wird von einer Schlinge ins Wasser gezogen. Ein Eisenspeer trifft ihn tödlich an der Halsschlagader. Geht es um mich? Ist das mein Schicksal?
Bei einer der Schwestern läutet das Telefon. Sie nimmt den Hörer ab und sagt plötzlich: „Ich kann nichts mehr hören.“ Sie sagt es mehr zu sich als zum Hörer. Sie muß in diesem Augenblick taub geworden sein. Sie sitzt verbittert und vereinsamt mit dem Telefon in der Hand auf einem Sofa vor einer stockigen Blumentapete in einem engen Zimmer. Sie ist eingesperrt. Ein graues Nachmittagslicht.
Der andere Schwesterkörper liegt bequem in einem hellblauem Seidenbademantel auf dem mit einer Tagesdecke überzogenen Bett. Sie ist jetzt ein Mädchen und piepst mit penetranter Kleinkinderstimme Schlager. Ihr Gesicht ist leichenblass geschminkt.
29.9.1993
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