Schnuller

Von Johannes Morschl

Für die, die mich noch nicht kennen, was vielleicht auch besser so geblieben wäre, aber nun ist es zu spät, wir befinden uns gemeinsam auf dieser merkwürdigen Leseveranstaltung, – mein Name ist Fritz Knurre. Ich knurre aber nicht wie ein Hund, sondern bin nur auf den Hund gekommen, zumindest was die Liebe betrifft. Ich habe lange hin und her überlegt, ob ich mich zu diesem Thema outen soll. Ich habe mir ja durch meine Auftritte auf diversen Lesebühnen einen gewissen Ruf erworben. Dieser könnte ernsthaft gefährdet werden, wenn ich mich zu meinem Liebesleben äußere. Dies könnte einigen Leuten Futter geben, um noch mehr hinter meinem Rücken über mich zu lästern, als sie es ohnehin schon tun. Doch was soll‘s. Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. In der Regel lese ich frei erfundene Geschichten vor. Diese hier ist nicht erfunden, sie ist bittere Realität. Sie handelt vom Scheitern meiner letzten Beziehung. Nebenbei gesagt sind alle meine Beziehungen gescheitert. Ich werde mich aber nicht über die Frau, mit der ich zuletzt zusammen war, auskotzen, wie das ja oft so üblich ist, wenn ein Typ über seine Verflossene redet und die Schuld am Scheitern der Beziehung einzig und allein ihr zuschiebt. Zu einer Beziehung gehören bekanntlich immer zwei, es sei denn, man hat nur ein Verhältnis mit sich selbst, was ja auch nicht so selten vorkommen soll. Nein, ich will hier versuchen, ganz bei mir zu bleiben und werde nur über meinen Anteil am Scheitern meiner letzten Beziehung berichten, auch wenn mir allein schon beim Gedanken daran ganz schwummerlich zumute wird. Vorweg möchte ich betonen, dass ich heute nicht mehr derselbe bin wie damals. Ob ich damals derselbe war, von dem ich hier berichten werde? Ob ich überhaupt derselbe bin, der ich bin? Doch das ist ein ganz anderes Kapitel und fällt mehr ins psychopathologische Bereich.

Meine letzte große Liebe hieß Viktoria, kurz Vicki genannt. Ich lernte sie vor drei Jahren auf der Geburtstagsfete einer Bekannten kennen. Sie fiel mir sofort auf und ich konnte kaum mehr meine Blicke von ihr abwenden. Je länger ich sie beobachtete, umso faszinierter war ich von ihr. Nachdem ich mir drei Becks und drei Baccardi Cola reingezogen hatte und außerdem an einem die Runde machenden Joint mitgeraucht hatte, konnte ich nicht mehr anders, als zu ihr hinzugehen und ihr auf der Stelle eine Liebeserklärung zu machen. Sie lächelte spöttisch und fragte mich, wie viel ich schon getrunken und gekifft hätte. Ich ließ jedoch nicht locker und konnte sie nach längerem Herumgeplänkel zu einem Treffen an einem der folgenden Tage überreden. Dem kam entgegen, dass sie damals gerade solo war.

Dieses Treffen war der Anfang von unserer Katastrophe. Danach trafen wir uns fast jede Woche, aber diese Verabredungen gingen immer nur von mir aus, nie von ihr. Ich betete Vicki wie eine Göttin an. Sie war darüber amüsiert und machte sich über mich lustig, was mein Verlangen nach ihr bis zum Wahnsinn steigerte. Ich schrieb ihr seitenlange Liebesbriefe und zusätzlich Liebesgedichte, in denen ich mich nicht entblödete, auch so grauenvolle Herz-Schmerz-Reime zu verfassen, wie zum Beispiel diesen: „Lass nach, oh höllischer Liebesschmerz, der so grausam durchbohrt mein armes Herz.“ Außerdem schenkte ich ihr dauernd Rosen und lud sie ins Kino, Theater, in die Oper und in bessere Restaurants ein. Ich verausgabte mich finanziell und überschlug mich vor ihr in vorauseilendem Gehorsam. Bei der kleinsten Verstimmung von ihr, die ich immer sofort auf mich bezog, wurde ich todunglücklich. Ich sagte dann manchmal, dass ich jetzt am liebsten tot sein würde, was Vicki befürchten ließ, dass ich mich, wenn wir zum Beispiel gerade in einer der Seitenlogen der Deutschen Oper saßen, kopfüber ins Parkett stürzen könnte, die Opernaufführung abgebrochen werden müsste, die Polizei käme, und so weiter. Um solche Unannehmlichkeiten zu vermeiden, versuchte Vicki mich wieder aufzumuntern, indem sie mir ein Küsschen gab, worauf ich – und bitte dies nicht nur sprichwörtlich zu verstehen – wieder mit dem Schwanz zu wedeln begann. Schließlich gelang es mir mit meinen hartnäckigen Anbetungsattacken, Vicki derart zu verwirren, dass sie sich auf eine Beziehung mit mir einließ. Und als sie eine Mieterhöhung bekam, was ja in Berlin keine Seltenheit ist, und ihr ihre Wohnung zu teuer wurde, ließ sie sich sogar von mir überreden, zu mir in meine Wohnung zu ziehen.

Doch kaum lebten wir unter einem Dach, verwandelte sie sich für mich – ich wage es kaum auszusprechen – in meine Mutti, natürlich nicht in meine leibliche Mutti, die Roswitha hieß und leider schon tot ist, sondern in Mutti Vicki. Ich regredierte immer mehr zum Kleinkind und begann Vicki mit Mutti anzusprechen. Außerdem zog es mich in meinem sexuellen Begehren nur noch zu ihren Brüsten. Da ich um sechs Jahre älter als Vicki bin, kann man sagen, dass unsere Beziehung zu einer Mutter-Kind-Beziehung wurde, in der das Kind älter als die Mutter war. Als Vicki für mich zur Mutti wurde, konnte ich nicht mehr mit ihr vögeln, denn das hätte gegen das seit Urzeiten bestehende Inzest-Tabu zwischen Mutter und Sohn verstoßen. Da ich aber nicht nur Kind, sondern gleichzeitig auch erwachsener Mann war, malte ich mir zum Ausgleich wilde Sexorgien mit anderen Frauen aus und onanierte dabei, natürlich nur heimlich, wenn ich für mich alleine war. Die Frauen, von denen ich fantasierte, waren aber keine, die ich kannte, sondern von mir ausgedachte Frauen. Sie hatten bei all ihrer Unterschiedlichkeit, ob ich sie mir mit zwei, drei oder vier Brüsten vorstellte, eine gemeinsame Eigenschaft: Sie waren einzig und allein an Sex interessiert, alles andere interessierte sie nicht die Bohne.

Ich geriet in einen schweren inneren Konflikt. Wegen dieser Sexfantasien und diesem heimlichen Onanieren bekam ich Mutti Vicki gegenüber Schuldgefühle, die mich aber wiederum bei meinen Sexfantasien und beim Onanieren störten. Eine Lösung hätte sein können, Mutti Vicki und die fantasierten Sexfrauen unter einen Hut zu bringen. Dann hätte ich bei Vicki zwischen der Rolle des oral fixierten Kleinkindes und der des schwanzgesteuerten erwachsenen Mannes hin und her wechseln können. Von solch einer Rollenflexibilität war ich jedoch weit entfernt. Ich erstarrte in der Rolle des putzigen Kleinen und fand aus ihr nicht mehr heraus. Vicki spielte dieses Spiel eine Zeit lang mit, wurde aber immer unzufriedener und ließ mich eines Tages nicht mehr an ihre Brüste ran. Dies löste schwere Depressionen bei mir aus, woraufhin sie mir einen Schnuller schenkte, über den ich mich wie ein Schneekönig freute. Vermutlich war ich der einzige erwachsene Mann in Berlin, der zu Hause beim Fernsehen und im Bett neben seiner Frau an einem Schnuller nuckelte. Aber wer weiß, vielleicht nuckelten und nuckeln noch viel mehr Männer zu Hause an einem Schnuller herum, als man denken würde.

Eigentlich hätte sofort eine Alarmsirene in mir aufheulen müssen, als Vicki mir den Schnuller schenkte, denn ein paar Wochen später floh sie in den hohen Norden, noch dazu in das entlegene Island, wo sie jetzt mit einem dieser Unmengen von Alkohol trinkenden Nachfahren der Wikinger zusammenlebt. Für mich war Vickis plötzliche Flucht so, als hätte man mir bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Ich konnte nichts mehr schreiben, saß jeden Tag stundenlang am Schreibtisch, nuckelte an dem Schnuller, den sie mir geschenkt hatte, und grübelte und grübelte, was ich schreiben könnte, doch es fiel mir nichts ein. Da entschloss ich mich, den Schnuller im Viktoriapark am Kreuzberg zu begraben. Beim Begräbnis hielt ich eine Trauerrede und sprach: „Liebe Trauergemeinde,“ – diese bestand übrigens nur aus mir -, „wir verabschieden uns heute von diesem Schnuller‚ der uns in den Stunden tiefster Bedürftigkeit so große Dienste geleistet hat, uns zuletzt aber nur noch an den Verlust unserer angebeteten Göttin und heißgeliebten Mutti Vicki erinnerte.“ Danach kaufte ich mir einen neuen Schnuller, der von Beziehungen völlig unbelastet war.

Doch was erzähle ich da? Warum mache ich mich hier zum Löffel oder besser gesagt zum Schnuller? Und warum glotzt ihr mich so komisch an? Macht euch doch lieber Gedanken über eure eigenen Beziehungen. So, das war‘s. Jetzt ist mir etwas leichter ums Herz.

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© 2022 Johannes Morschl
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