Neandertaler

Von Johannes Morschl

Ein Freitagmorgen im Mai in Berlin. Ein alter Mann im Pyjama steht vor einem an eine Wand gelehnten großen Spiegel in seinem Wohnzimmer und redet mit seinem Spiegelbild.

Oh sehe ich dich endlich wieder, mein altvertrauter Schicksalsgefährte, nach dieser unruhigen Nacht, in der mich wüste Bilder überkamen, wie unsere geliebte Mutter, noch jung und frisch wie eine aufblühende Rose, in den Armen unseres Erzeugers, eines echten noch lebenden Neandertalers mit langem zotteligen Haar gelandet ist. Er hauste in einer Höhle nahe eines einsamen Kieselstrands an der Südküste Kretas, auf dem ihm unsere Mutter begegnete. Sie neigte schon damals dem Genuss von Marihuana zu, und da bildete sie sich in ihrem bekifften Zustand ein, dieser zottelige Kerl am Strand müsse Dionysos, der Gott des Weins und der Ekstase sein. Sie ließ sich auf Sex mit ihm ein, bei dem er schnaufend und grunzend einen Samenstrom in sie ergoss, der sich gewaschen hatte. Da sie damals noch nicht die Pille nahm und ihm Kondome unbekannt waren, wurde sie nahezu unvermeidlicher Weise von ihm schwanger, und zwar mit uns. Als wir das grelle Licht dieser Welt erblickten, befand sie sich wieder in Berlin. Von ihrem Dionysos hat sie nie wieder etwas gehört. Dass es sich bei ihm um einen echten noch lebenden Neandertaler gehandelt haben muss, wurde ihr allerdings erst später anlässlich des Besuchs einer Ausstellung über Neandertaler in Berlin bewusst. In dieser Ausstellung konnte man Neandertaler in Lebensgröße sehen, von professionellen Bildhauern unter Anleitung von Neandertaler-Forschern angefertigt. Bei einer dieser Figuren glaubte sie, ihren Dionysos leibhaftig vor sich stehen zu haben. Dass unser Erzeuger ein echter Neandertaler war, hat sie aber nur uns erzählt, sonst niemandem, denn das hätte ihr kein Mensch geglaubt.

Mit meiner Geburt wurdest auch du geboren, mein einziger Gefährte in diesem Jammertal, der mir immer im Spiegel erscheint und mein eineiiger Zwillingsbruder sein könnte. Wir beide sind ein Herz und eine Seele. Wir wussten zwar nie so recht, was wir auf dieser Welt sollen, aber da ich da bin, bist auch du da. Solltest du mir einmal nicht mehr im Spiegel erscheinen, sollte der Spiegel, in den ich blicke, eines Tages leer sein, – nein, gar nicht auszudenken -, das wäre eine Katastrophe. Unsere Mutter hat uns gesagt, dass wir mit unserer relativ kleinen robusten, stämmigen Statur, unserem fliehenden Kinn, unserer knolligen Nase, unseren stark ausgeprägten Augenbrauenwülsten, unserer niedrigen breiten Stirn und unserem zotteligen Haar ganz nach unserem Erzeuger geraten sind. Auch hatten wir von Kindheit an Bärenkräfte, so wie auch unser Erzeuger nach Aussage unserer Mutter Bärenkräfte gehabt haben soll. Unsere Mutter war begeistert von uns. Sie hat uns immer wieder gesagt, wie einzigartig wir seien. Doch von den sogenannten normalen Menschen, die sich großspurig Homo sapiens sapiens nennen, – ja doppelt sapiens, ein sapiens reicht ihnen nicht aus, obwohl allein schon das bei so manchen von ihnen viel zu hoch gegriffen ist -, wurden wir nie in unserer Einzigartigkeit anerkannt, ja ganz im Gegenteil, man verspottete uns nur. Einer der harmlosesten Sprüche war noch, wir sähen aus wie Affen.

Nachdem wir Kindergarten und Grundschule einigermaßen seelisch unbeschadet überstanden hatten, gingen wir auf eine Hauptschule. Dort blickten die hochnäsigen Lehrer mit ihrem beschränkten geistigen Horizont verächtlich auf uns herab. In ihren Augen waren wir der Schule nicht würdig. Diese Schule war jedoch nichts anderes als eine für Esel, in der Esel unterrichteten. Wir reagierten auf die uns verachtenden Lehrer mit Leistungsverweigerung. Nur aufgrund des Flehens unserer Mutter bei dem von ihrem imposanten Busen entzückten Schulleiter, diesem geilen alten Bock, wurden wir nicht vorzeitig der Schule verwiesen, sondern konnten sie mit einem Hauptschulabschluss mit durchgängig schlechten Noten beenden. Dieser Hauptschulabschluss reichte aber aus, um eine Festanstellung bei einer kleinen Firma zu bekommen, die sich auf den Transport von Klavieren und Konzertflügeln spezialisiert hatte. Dort hat man uns nicht verachtet, sondern wegen unserer Bärenkräfte geschätzt. Ohne uns hätte man zwei, drei Mitarbeiter mehr einstellen müssen. Heute beziehen wir eine Rente, von der wir uns zwar keinen Luxus leisten können, mit der wir aber so einigermaßen über die Runden kommen.

Bis zum viel zu frühen Tod unserer heißgeliebten Mutter, die eine Frau voller Lebenslust war, bis zuletzt jeden Abend Marihuana geraucht hatte, gerne tanzen ging und dauernd von Männern umschwärmt war, uns zum Glück aber keinen dieser Männer als Ersatzvater zugemutet hatte, wohnten wir mit ihr in trauter Dreisamkeit in jener Wohnung, in der wir noch heute wohnen. Nach Mutters Tod kamen wir auf die aberwitzige Idee, uns eine Frau zu suchen, die sie einigermaßen ersetzen könnte, was von vornherein zum Scheitern verurteilt war, denn zum einen war unsere Mutter unersetzbar, und zum anderen standen wir aufgrund unserer Ähnlichkeit mit unserem Erzeuger in einem allzu großen Gegensatz zu den äußerst fragwürdigen vorherrschenden Vorstellungen von einem gutaussehenden Mann. Die Frauen, die wir als mögliche Partnerinnen ins Auge gefasst hatten, waren – selbst wenn sie weitaus mehr der Venus von Willendorf als der von Milo glichen – meilenweit davon entfernt, uns gegenüber so einen Wunsch zu äußern, wie: Mach mir den Neandertaler.

Nachdem wir uns eine Abfuhr nach der anderen eingeholt hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als manchmal zu einer das altehrwürdige Sexgewerbe betreibenden Frau zu gehen, wobei zuerst nur ich hinging, aber sofort merkte, dass es ohne dich nicht geht. Deshalb bat ich, den Sex vor einem Spiegel zu machen, was zwar etwas mehr kostete, aber nicht das Doppelte. Ich wurde niemals eifersüchtig, weil du es direkt vor meinen Augen mit derselben Frau wie ich getrieben hast, ja ganz im Gegenteil, es spornte mich zu geradezu akrobatischen Stellungen an, und wie ich im Spiegel sehen konnte, spornten dich meine akrobatischen Stellungen zu haargenau denselben akrobatischen Stellungen an, was wiederum mich anspornte, bei der Verrenkung meiner Glieder bis an die äußerste Schmerzgrenze zu gehen. Jedes Zirkuspublikum wäre von unseren aus anatomischer Sicht nahezu unmöglichen Verrenkungen begeistert gewesen. Heute jedoch würden wir das nicht mehr hinbekommen, unsere Gelenke sind mit zunehmendem Alter immer mehr eingerostet. Wir gehen schon lange nicht mehr zu einer Frau aus dem Sexgewerbe, dies würde zu große Löcher in unser knapp bemessenes Budget als Rentner reißen. Heute befriedigen wir uns nur noch selbst und auch das immer seltener, da der Triebdruck erheblich nachgelassen hat.

Ja, wenn es die Neandertaler noch geben würde, dann wäre unser Leben ganz anders verlaufen und wir wären schon längst mit einer Neandertalerin verheiratet. Neandertalerinnen hätten unser Aussehen zu schätzen gewusst, die wären nur so auf uns geflogen, die hätten in uns ein Prachtexemplar von einem Neandertaler gesehen. Aber leider gibt es die Neandertaler nicht mehr. Unser Erzeuger war vermutlich der letzte noch Lebende von ihnen. Da man ihn nur allzu deutlich an uns wiedererkennen kann, besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass die heutige Neandertaler-Forschung, wie sie am Max Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig betrieben wird, auf uns aufmerksam werden könnte. Deren unersättlichen wissenschaftlichen Begierde wollen wir auf keinen Fall zum lebenden Studienobjekt werden. Wir hatten schon Albträume, in denen wir von Neandertaler-Forschern umzingelt waren, die mit großen Betäubungsspritzen bewaffnet langsam näher rückten, doch kurz bevor sie auf uns einstechen konnten, wachten wir schweißgebadet und am ganzen Leib zitternd auf. So etwas wollen wir auf keinen Fall live erleben.

Wir sind dieser Welt überdrüssig geworden, in der es immer schlimmer zugeht. Millionen Menschen sind vor Krieg, Verfolgung, Hunger und Elend auf der Flucht. (1) Gleichzeitig kommen immer mehr Zombies an die Macht, groteske Witzfiguren, als Biedermänner getarnte Psychopathen und politische Brandstifter, die mit Vorliebe gegen Flüchtlinge und Minderheiten hetzen. Dies könnte sich durchaus auch noch gegen uns richten, auch wenn wir beide nur eine sehr kleine Minderheit sind. Na ja, zum Glück wird uns sowieso bald der Tod aus diesem Tollhaus befreien. Ich verlasse dich jetzt, mein Schicksalsgefährte und einziger Freund auf dieser Welt, aber keine Angst, nicht für immer. Gehe nur unter die Dusche und ziehe mich an. Kann ja nicht im Pyjama Brötchen holen gehen. Wir wollen ja nicht unnötig Aufsehen erregen und womöglich ins Visier fanatischer Neandertaler-Forscher geraten.“

Der alte Mann im Pyjama winkt seinem Spiegelbild zum Abschied zu und verlässt das Wohnzimmer.

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(1) Diese Geschichte schrieb ich im Dezember 2017. Ende 2017 waren nach Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 68, 5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Mitte 2021 waren es bereits über 84 Millionen Menschen.

© 2022 Johannes Morschl
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