Die Flügel des Meisters

Von Michael Metzger

Als der Meister noch ein Kind und kein Meister war, ging er, wie so oft, eines Abends im Sommer zu seinem Lieblingsplatz – zu einer Bank an einem Hügel, an dem zwei große Linden stehen. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu. Sie tauchte die spätsommerliche Landschaft in ein warmes, rötlich-goldenes Licht. Vergnügtes Vogelgezwitscher erklang von allen Seiten. Der Meister erblickte auf den Weiden ringsum friedlich grasende Kühe. Die Luft war angenehm lau und vom köstlichen Duft der Natur erfüllt. Es herrschte eine rundherum idyllische Atmosphäre wie aus einem Bilderbuch.

Gerade als er die Bank an seinem Lieblingsplatz erreichte, nahm der Meister ein sich eigentümlich bewegendes, schwarzes Objekt im Gras wahr. Neugierig begab er sich näher. Da entdeckte er, dass es sich bei dem Objekt um einen winzigen Vogel handelte, der unbeholfen durch das tiefe Gras hüpfte. Eine Zeit lang beobachtete er diesen. Es wunderte den Meister, dass der Vogel nicht anfing zu fliegen, sondern immer weiter hüpfte.

Obschon der Meister damals noch ein unerfahrenes Kind war, verstand er bereits, dass es für den Vogel gefährlich sein konnte, sich zu lange in Bodennähe aufzuhalten. Denn jederzeit konnte eine hungrige Katze sich aus dem Hinterhalt anpirschen und den Vogel erbeuten, wenn er nicht rechtzeitig davonfliegen würde. Neugierig ging der Meister bald näher an diesen eigenartigen Vogel heran, der sich bewegte als hätte er keine Flügel.

Der Meister erwartete, dass der Vogel flugs davonflattern würde, wenn er diesem zu nahekäme. Doch der Vogel hoppelte weiter, während der Meister sich ihm näherte. Da der Vogel keine Anstalten machte zu fliegen, war es ein Leichtes für den Meister, ihn zu erreichen und ihm den Weg zu versperren. Vorsichtig nahm er den winzigen Vogel in beide Hände. Der Vogel hatte wunderschöne, völlig gesund erscheinende Flügel, die sich ganz weich anfühlten. Und dennoch bewegte er sich, als wären seine Flügel erlahmt oder nur nutzloser Schmuck.

Behutsam streichelte der Meister den Vogel. Dabei rührte dieser seine Flügel nicht. Darum sprach der Meister sanft zu ihm: „Kleiner Vogel, warum fliegst du nicht?“ Er rechnete nicht mit einer Antwort. Es war vielmehr so, dass er die Frage, die er sich selbst stellte, laut aussprach und an den Vogel richtete. Schließlich war niemand da, der ihn hätte hören und sein Verhalten als seltsam beurteilen können.

Umso verblüffter war er jedoch, als der Vogel in einem melodischen Sing-Sang antwortete: „Mein Junge, ich kenne dich. Oft habe ich dich hierherkommen sehen. Du bist noch sehr jung und weißt nicht viel von der Welt. Darum erteile ich dir heute eine Lektion. Es ist etwas, das ich aus eigener Erfahrung und durch Beobachtung gelernt habe.“ Der Meister war völlig verblüfft darüber, dass der Vogel zu ihm sprach und er dessen Sprache verstand.

Der Vogel machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: „Du bist kein Vogel, doch auch du hast Flügel. So wie mich meine Flügel zum Vogel machen, zeichnen dich deine Gaben aus. Sie machen dich zu einem einzigartigen Wesen. Deine Talente sind deine Flügel. Vielleicht weißt du das noch nicht. Vielleicht ahnst du es aber auch schon, hast jedoch keine Idee, wie du sie gebrauchen könntest. Oder du willst sie nicht gebrauchen. Vielleicht denkst du, sie seien nutzlos. Vielleicht bist du auch zu bequem, um sie zu gebrauchen.“

Der Meister lauschte, immer noch verdutzt, während der Vogel erklärte: „Deine Flügel sind jedoch ein Zeichen für deine Freiheit und deinen Weg zu ihr. Deine Freiheit wurde dir zusammen mit deinen Flügeln geschenkt. Aber wirklich frei wirst du nur, wenn du deine Flügel auch zu benutzen verstehst.“ So sprach der Vogel, breitete unversehens seine Flügel aus und flog geschwind aus den Händen des Meisters davon.

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© 2022 Michael Metzger
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