Die Zuckerdose

Von Franziska Rohrmoser

Sorgfältig hole ich die Teller des Kaffeeservice nach und nach aus der alten Glasvitrine, umwickle sie mit Zeitungspapier und lege sie neben mir ab. Ich möchte sie zuerst transportsicher machen, bevor ich sie in dem Umzugskarton, der vor mir steht, verstaue. Schließlich soll alles heil zu Hause ankommen.
In einem anderen Karton liegen bereits ein paar Bücher, die ich mir ausgesucht habe. Ich blicke mich um, überall stehen Dinge von dir, die ich größtenteils nicht kenne, waren sie doch die meiste Zeit vermutlich in Schränken verstaut, in die ich nie gesehen habe. Ich grübele. Was bringe ich meiner Mama und meiner Schwester, die diesen Schritt heute nicht gehen können, als Erinnerung mit?
Alles sieht auf eine so befremdliche Art und Weise vertraut aus und das liegt nicht daran, dass die Wohnung schon zum großen Teil ausgeräumt ist. Ich war schon so lange nicht mehr hier. Meine Tante hat mir genau erklärt, wem was gehört, ich erkenne das System hinter all den Häufchen an Dingen. Auf manchen kleben Zettel mit Namen. Ich kann ganz in Ruhe alles durchsehen und entscheiden, was ich mitnehmen möchte. Doch ich weiß es gar nicht so recht. Was wenn ich jetzt eine falsche Entscheidung treffe?
So viele Gedanken kreisen durch meinen Kopf. Ich bin nervös. War es überhaupt richtig, hier herzukommen oder wird es nur Wunden aufreißen, die vorher vielleicht gar nicht bluteten?
Ich bin froh, dass Papa in der Nähe ist, nur ein, zwei Zimmer weiter. Ich bin nicht allein. Und sicherlich nicht allein mit dieser Überforderung. Ich sitze hier also in deinem Wohnzimmer und umwickle den letzten Teller. Als nächstes greife ich nach einem kleinen Sahnekännchen und einer Zuckerdose. Ich stelle beides vor meinen Knien ab. Ich nehme den Deckel der kleinen Kanne und packe sie in ein Stück Papier.
Danach nehme ich den Deckel der Zuckerdose ab, doch noch bevor ich ihn weglegen oder gar einwickeln kann, durchfährt es mich, wie ein Blitz. Ich starre auf die Zuckerwürfel in der Zuckerdose. Richtig. Die gehören da rein. Wieso also habe ich nicht damit gerechnet. Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Sitze einfach nur so da und starre den Zucker an, den Deckel noch in der Hand. Erst jetzt wird mir wirklich klar, was wir hier tun.
Wir räumen ein ganzes Leben aus einer Wohnung. Sortieren Jahrzehnte an Erinnerungen aus. Wenn wir dieses Leben verlassen, dann gehen wir mitten im Leben. Von jetzt auf gleich. Innerhalb eines Herzschlags. Wir leeren nicht vorher die Zuckerdose. Niemand weiß, wie viel Zeit er hier noch hat.
Ich denke an dich. Über neunzig Jahre auf dieser Welt. Was deine Augen wohl alles gesehen haben. Was dein Herz wohl alles gefühlt hat. Welche Erinnerungen hast du mit dir genommen? Wie viele Erfahrungen hast du in deinem Leben gesammelt? Glückliche aber auch schmerzvolle. Ich denke an unseren gemeinsamen Spielenachmittage. Die Rezepte, die du mir beigebracht hast und die doch nicht so schmecken, wie von dir, da eben nur du den weltbesten Apfelkuchen backst. Deine Gute-Nacht-Geschichten, die so voller Abenteuer steckten und unsere Erkundungstouren im Wald.
Während ich so an dich denke, kullern große Tränen meine Wangen entlang. Deine Zeit hier war nicht zu kurz. Doch um unsere gemeinsame Zeit fühle ich mich betrogen, hätte sie doch noch so viel länger sein sollen, denn so vieles weiß ich nicht über dich. So viele Fragen sind offen geblieben. Über deine Herkunft, deine Kindheit. Warum habe ich diese Fragen nie gestellt?
Und während ich mich wieder umblicke und dein ganzes Leben über den Boden verstreut sehe, begreife ich, dass es darauf gar nicht ankommt. Ich brauche keine tausend Erinnerungsstücke. All das Materielle, ich kann es loslassen.
Ich lege den Deckel auf die Zuckerdose und nehme sie mit, den Rest jedoch, den lasse ich zurück und es fällt mir gar nicht schwer. Ich verabschiede mich mit einer festen Umarmung von Papa und meiner Tante und erkläre ihnen, dass ich alles gefunden habe, was ich brauche. Ich verlasse das Haus und laufe über den Hof zu meinem an der Straße geparkten Auto und steige ein. Die Zuckerdose stelle ich vorsichtig auf dem Beifahrersitz ab und starte den Motor.
Es ist nicht wichtig an all diesen Dingen, die du zurückgelassen hast, festzuhalten, sondern die Zeit zu nutzen, die wir haben. Das hättest du für mich gewollt. Nichts anderes. Ich nehme nur diese Zuckerdose mit, als Erinnerung daran, wie kostbar unsere Zeit hier ist und ich verspreche dir, meine zu nutzen.
Ich werde reisen und mir die Welt anschauen. Fehler machen, um daraus zu lernen und stärker zu werden. Gute und schlechte Tage haben, jedoch nie aufgeben. Selbstbewusst durch diese Welt gehen und bedingungslos lieben. Lachen, sehr viel lachen und tanzen, egal ob bei Sonnenschein oder Regen. Immer auf der Suche nach meinem Glück. Erwachsen und verantwortungsvoll sein, jedoch auch nie das kleine Mädchen verlieren, dass mit funkelnden Augen Geschichten erzählt. Das alles verspreche ich Dir. Bis wir uns wiedersehen, Oma.

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© 2022 Franziska Rohrmoser
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