Eine Flasche kippt um

Von Michael Wiedorn

Er ist müde. Er kann sich auf dem U-Bahnsitz kaum aufrechthalten. Der ältere Mann ist schwer betrunken und neben seinen Beinen steht eine offene Bierflasche. Immer wieder kippt er langsam nach vorne und kurz vor dem Sturz reißt etwas ihn wieder zurück an die Wand. Irgendwann wird er voller Wucht auf den Boden knallen. Die Passagiere sehen ihn erwartungsvoll an. Eine junge Araberin mit schwarzem Kopftuch, die neben ihm auf seiner Sitzbank sitzt, blinzelt mir komplizenhaft zu. Ich weiche ihrem Blick aus. Ich starre weiter auf den Mann. Wird er jetzt endlich mit dem Kopf auf den harten Boden knallen? Es wird Blut fließen. Vor meinen Augen findet ein Drama statt. Die Leute gehen ins Kino, ins Theater. Vor dem Betrunkenen steht eine schmuddelige Plastiktüte. Er kippt wieder ganz nach vorne. Sein Schädel berührt beinahe den Boden. Die Bierflasche fällt um. Ein schäumender Bach eilt Richtung Eingang zur Fahrerkabine, knickt aber kurz vor der Türe nach links ab. Wäre die Flut in die Fahrerkabine eingedrungen, würde der Zug ruckartig stillstehen. Der Fahrer hätte mit von Zorn knallrotem Kopf die Türe aufgerissen hätte den Ärmsten am Schlafittchen gepackt und wie einen Müllsack aus dem Zug geschmissen. Beim Anblick der umgefallenen Flasche kichert mein Nebenmann. Sein Kichern steigert sich mehr und mehr zu einem wiehernden Lachen. Sein Körper wird von dem Gelächter erschüttert. Sein Bauchfett vibriert. Die Araberin mir gegenüber hat einen Seelenverwandten gefunden und lächelt meinem Nachbarn boshaft zu und er lacht herzlich zurück. Durch den Lärm der umkippenden Flasche ist der Besoffene aus seinem Schlaf gerissen. Er zerrt aus seiner Plastiktüte ein vergilbtes Zeitungspapier und knüllt es zusammen. Die Frau mit Kopftuch spreizt angeekelt ihre Finger und quietscht fröhlich: „Iiiiiiiiiih.“ Sie setzt sich auf meine Bank. Der Übeltäter versucht mit dem Papier die Bierrinne aufzuwischen. Es gelingt ihm die Rinne verschwinden zu lassen. Der Boden verwandelt sich in eine rutschige Gleitfläche. Der Mann weigert sich eine Putzfrau zu werden. Er rührt aufrecht stehend, sein Stand ist wankend, mit dem Fuß das Papier über die Fläche. Nach vollendeter Arbeit setzt er sich wieder hin. Die Anderen starren ihn an. Harte, ernste Blicke. Er blickt nicht zurück. Er hat vor Scham keine Augen mehr. Gehört er noch zur Menschheit? Im Gegensatz zu mir trägt er frisch gewaschene Jeans. Ein fein geschnittenes Gesicht. Vielleicht war er früher Lehrer mit musischen Neigungen.
Die U-Bahn hält. Die Einsteigenden starren zu erst auf den schmierigen Boden. Es ekelt sie. Der Wagen ist gerammelt voll. Niemand will sich neben den Alkoholiker setzen.

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