Ich zerfalle in verschiedene Bilder

Von Michael Wiedorn

Oft lasse ich mich fotografieren. Gezwungener Weise. Ich arbeite gelegentlich als Filmkomparse. Da muß man immer wieder neue Fotos schicken. Man kann sehr schnell altern und merkt nichts. Neue Bilder betrachte ich immer auf das Genaueste, aber zuerst fürchte ich mich, auch nur ganz flüchtig auf sie zu schielen. Mir war nie klar, welche Erscheinung ich biete. Wie würde ich mich wahrnehmen, wenn ich mir als Fremder gegenüberstehen würde? Seit einiger Zeit fahnde ich nach Alterszeichen. Die schleichende, aber deutlicher werdende Graufärbung der Haare. Die Abschlaffung der Haut. Tränensäcke und Specknacken. Brust und Bauch weichen auf. Ich werde als Fett zerfließen. Wer bin ich? Ich habe nie verstanden, wer ich bin. Je mehr Fotos ich habe machen lassen, desto verwirrter war ich. Auf einem älteren Foto schaut ein hochsensibler Lyriker mit scheu gesenktem Blick auf ein Buch. Wohl der erste selbst veröffentlichte Gedichtband oder ein Bändchen mit Rilkegedichten. Schmale, gepflegte Hände. Ein durch unzählige Waschgänge zerschlissenes, zartrosa T-Shirt mit langen Ärmeln um meine zarten Armmuskeln. Auf einem anderen Bild, das etwa zehn Jahre später aus dem Blickwinkel von jemand Anderem aufgenommen worden ist, steht breitbeinig ein junger Mann da. Mit entschlossen verschränkten Armen schaut er mit festem Blick in die zu bearbeitende Welt hinaus. Die Brust ist von Muskeln gewölbt. Vielleicht auch nur vom ersten Fettwuchs. Der Jeansstoff spannt sich über die gut entwickelten Schenkel. Ihm ist der Lyriker vom älteren Bild abgrundtief fremd. Ihm wird die Rolle eines Maurers oder Schlossers zugeteilt. Sein Gesicht ist von gesunder Härte. Ein Soldat im Feld. Er wird Fußballfan im Stadion spielen. Ich kenne ihn nicht.

Ich bin ein Chamäleon. Ich bin Proteus. Mein Körper wechselt ständig seine Gestalt. Ich habe keine bestimmte Eigenschaften und keine Persönlichkeit. Ich kann selbst meinen Knochenbau wechseln. Wachsende Flügel breite ich aus oder lasse mir Schuppen wachsen.

Eines schlimmen Tages werde ich in meiner Wohnung kurz in den Spiegel blicken. Ein fremder Greis wird mich anstaunen. Was hat er hier zu suchen? Ich weise ihm empört die Türe. Raus! Aber ganz schnell! Ich strecke den Arm um ihm den Ausgang zu zeigen und erschrocken sehe ich den Alten spiegelbildlich den Arm strecken. Ich bin er und habe die ganzen Jahre nichts gemerkt.

Mich befällt das Entsetzen, das mich als Kind befiel, wenn ich Märchen hörte, in denen Menschen zur Strafe in Schweine verwandelt wurden und den Rest ihres Lebens grunzend in Schweinegestalt im Schweinekoben verbringen müssen.

Auf meinem Castingagenturprofil sah ich ein neues Foto. Es war eigentlich nicht so neu. Ich erblickte einen matten Kerl im Profil. Silberblondes Haar – nein sagen wir ganz offen – graues Haar, eindeutig graues Haar. Doppelkinn und markante Halsfalten. Mein Gesicht ist schwammiger, als ich dachte. Ein älterer Mann, verschlissen von einem trüben, traurigen Leben. Dem Fotografen bot ich diesen Anblick. Er hielt nichts von mir. Ich werde Rollen in Sanatorien und Krankenhäusern zugewiesen bekommen. Ein müdes Säufergesicht. Ein Unbeachteter, der sich mit flehender Stimme aufdrängt. Ich fange an ekelerregend zu werden. Ich sollte mich um die Ecke bringen.

Ich war schockiert und hielt die Maus auf „Schließen“ und ging – ich ging nicht, sondern rannte, flüchtete auf eine andere Seite. Ich dachte dann: „Sieh dir ruhig mit offenen Augen das Grauen deines Lebens an!“ Ich kehrte zu dem Foto zurück und zwang mich es genau anzusehen. Ein Fotoapparat kann nur das abbilden, was da ist. Du beobachtest dich selbst mit dem grausam sachlichen Blick, mit dem dich ein Arzt oder Polizist untersuchen würde.

Früher stand mein Spiegel im gedämpften Licht im Flur. Mein Anblick gefiel mir. Ein Mann in der Blüte seiner Kraft.

Ein Kind sieht in den Spiegel und erwartet freudig die ersten Zeichen des Mannes, der in ihm wartet. Als Erwachsener wird er mit immer größerer Stoßkraft den Greis, der in ihm wie ein Krebs wächst, zurückzudrängen versuchen.

Seit einigen Jahren spüre ich durch das Verhalten meiner Mitmenschen, daß ich nicht mehr jung bin. Früher mußte ich immer wieder meinen Personalausweis zücken, daß die Anderen mir mein fortgeschrittenes Alter abnahmen. Heute nehmen sie meine Altersangabe ruhig und als selbstverständlich hin und nicken. Mein Leben geht bergab.

Ich betrachte die jungen Gesichter meiner Alterskollegen. Sie drehen ihren Kopf und das Licht entlarvt den in ihnen schlummernden Greis, der sie vollständig in Besitz nehmen wird.

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© 2022 Michael Wiedorn
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