Mein neuer Opa

Von Carmen Schmidt

Von Kindheit an habe ich eine liebevolle Beziehung zu Äpfeln.
Sie sind definitiv mein Lieblingsobst. Manchmal denke ich, es muss so etwas wie ein vererbliches Apfel-Gen geben, denn meine Kinder sind auch Apfelfans.
Diese Vorliebe hat ihren Ursprung bei meiner Oma Dorette. Die Mutter meines Vaters war eine kleine zierliche Person mit einer etwas schiefen Nase. Ihre fünf Söhne hatte sie alleine groß gezogen, da mein Opa früh an Magenkrebs verstarb. Sie wohnte bei uns im Erdgeschoss. Oma Dorette begann jeden Tag mit einem Gläschen Korn und interessierte sich für alles, besonders für meine Liebesgeschichten.
Als sie nicht mehr gut laufen konnte, übernahm ich ihre Einkäufe. Zuerst stellte sie mich dem Obsthändler am Ende der Straße vor. Dreimal in der Woche schickte sie mich zu ihm. Jedes Mal sollte ich ihr einen Apfel der Sorte Ingrid Marie mitbringen. Mir kam dieser Einkauf umständlich vor. „Kauf doch drei Äpfel für die ganze Woche“, schlug ich vor. Davon wollte sie nichts wissen. „Dann sind sie nicht mehr so frisch“, meinte sie störrisch und drehte sich um.
Obsthändler Leusing, ein schlanker, hoch gewachsener Mann Mitte fünfzig, lachte mir schon entgegen, wenn ich den Laden betrat. Sofort nahm er zwei besonders schöne Ingrid Marie aus der Apfelkiste und rieb sie an einem Ärmel blank. Einen Apfel packte er liebevoll in eine Tüte, den zweiten gab er mir in die Hand. „Für den Weg“, sagte er mit warmer Stimme.

Dabei strahlten seine dunklen Augen, die gut zu den braunen Locken passten. Er gefiel mir, weil er eine anziehende Wärme ausstrahlte. Der bräunliche Teint und die abstehenden Ohren gaben dem Gesicht einen besonderen Charme.
Ich schaffte es nie, meinen Apfel unangetastet nach Hause zu bringen. Er duftete so verlockend, dass ich schon auf dem Heimweg das erste Mal abbiss und dann nachdenklich den Rest betrachtete. Was war nur das Besondere an diesem Apfel? Sein süß-säuerliches Fruchtfleisch ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Jeder Bissen schmeckte einfach himmlisch. Wenn ich mich umdrehte, sah ich Herrn Leusing in der Tür stehen und mir lächelnd nachsehen. Meine Oma wartete oft am anderen Ende der Straße und winkte mir zu. Ich verstand damals nicht, warum der Kauf eines Apfels für diese beiden so aufregend war.
Mit 21 Jahren verließ ich mein Elternhaus, um in die benachbarte Großstadt zu ziehen. Kurz zuvor hatte der Obsthändler seinen Laden aus Altersgründen geschlossen. Kurz danach erkrankte meine Großmutter an Nierenkrebs. Sie starb nach vier Jahren Krankheit mit 79 Jahren.
Unter den Trauergästen auf dem Friedhof entdeckte ich auch den Obsthändler. Alt war er geworden, das Gesicht grau und faltig. Gebückt stand er in einer Ecke des Friedhofs, die Hände auf einen Stock gestützt. In seinen Augen entdeckte ich Tränen.
Auf Wunsch der Verstorbenen verlas mein Vater während des anschließenden Kaffeetrinkens einen Brief, den meine Oma ihm kurz vor ihrem Ende gegeben hatte. Darin gestand sie, dass nicht alle fünf Söhne von meinem Opa stammten.

Opa Franz heiratete sie, als sie schon zwei Monate von einem anderen Mann schwanger war. Natürlich galt er als der leibliche Vater des Sieben-Monats-Sprösslings, doch der biologische Vater hieß Wilhelm Leusing. Er war Omas große Liebe, von dem sie nie lassen konnte. Die beiden trafen sich heimlich immer wieder. Frau Leusing konnte keine Kinder bekommen. Ihr gehörte der Laden, deshalb schien eine Trennung unmöglich.
Nach dem Verlesen des Briefes herrschte eine unheimliche Stille. Dann redeten alle wild durcheinander. Meine Mutter behauptete, es immer schon gewusst zu haben. Die Trauergemeinde löste sich schnell auf. Zuerst war ich völlig geschockt, dann lächelte ich innerlich. Deshalb die geheimnisvollen Apfelgänge. Nun erschien sonnenklar, wer die Gene des Obsthändlers erwischt hatte. Meine Onkels Franz, Hans und mein Vater wurden im Sommer sofort braun. Ihre Ohren standen weit ab. Die drei aßen für ihr Leben gerne Obst.
Plötzlich hatte ich einen neuen Opa bekommen.

Vielleicht gibt es das vererbliche Apfel-Gen ja wirklich.

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