Drei Szenen aus Antons Kindheit

Von Johannes Morschl

1

Als Anton ein Jahr alt war, konnte er auf einmal keine Nahrung mehr halten. Auf Anraten des Hausarztes brachten ihn seine Eltern in ein Krankenhaus, das auch eine Abteilung für Kleinkinder hatte. Die dortigen Ärzte hatten den Verdacht auf eine Lungentuberkulose, die bei Kleinkindern besonders gefährlich ist, und legten ihn auf eine Isolierstation. Er lag in einem Bett in einem weißen Krankenzimmer mit noch ein paar anderen Betten, die aber alle unbelegt waren. Eine Wand mit einer Glasscheibe trennte das Krankenzimmer von den Besuchern. Hinter der Glasscheibe standen oft seine Eltern und blickten besorgt auf ihn. In den ersten Tagen weinte und schrie er fast nur, doch dann verstummte er. Langsam fiel der Schatten des Todes auf ihn. Da wurde in das leere Bett, das neben dem seinen stand, ein kleines Mädchen gelegt. Das Mädchen lächelte ihm zu und streckte ihre Händchen nach ihm aus. Dies hielt ihn am Leben. Ohne die Zuwendung dieses Mädchens wäre er vermutlich gestorben. Er wollte das Mädchen nicht verlassen. Er fühlte sich mit ihm in einer tiefen kreatürlichen Liebe verbunden und begann wieder die Nahrung zu halten. Die Ärzte schrieben dies ihrer Behandlung zu, obwohl seine Heilung nichts mit ihrer Behandlung zu tun hatte, denn der Verdacht auf Lungentuberkolose erwies sich als falsch. Als dies festgestellt wurde, befand er sich bereits auf dem Weg der Genesung. Nach zwei Monaten konnten ihn seine Eltern wieder mit nach Hause nehmen. Später glaubte er immer, in den Frauen, in die er sich verliebte, seine damalige Schicksalsgefährtin wiederzuerkennen, obwohl er sich nur sehr verschwommen an sie erinnern konnte, – es war mehr eine gefühlte als eine bildliche Erinnerung -, weshalb aber seine Liebesbeziehungen regelmäßig scheiterten, denn die Frauen merkten nach einiger Zeit, dass er nicht sie, sondern eine andere meinte. Was Anton zusätzlich von diesem frühen Krankenhausaufenthalt blieb, war die trennende Glasscheibe zwischen seinen Eltern und ihm. Solange seine Eltern lebten, hatte er das Gefühl, zwischen ihnen und ihm befinde sich eine Glasscheibe.

2

Als Anton drei Jahre alt war, schloss er sich an einem Sommertag mit seinem gleichaltrigen Freund Franz, dem jüngsten der drei Nachbarskinder, im Klosett der elterlichen Wohnung ein. Sie waren bereits genügend dressiert, um sich auf die Klobrille zu setzen und ordnungsgemäß in die Kloschüssel zu machen. Sie hatten aber dieses Mal Holzstöckchen mitgenommen, mit denen sie den ausgeschiedenen Darminhalt kreativ verarbeiten wollten. Sie kackten hintereinander, tunkten dann die Holzstöckchen in den Haufen ein und fielen mit diesen über die weiße Tapete im Klosett her. Sie malten wie im Rausch und vergaßen alles rundherum. Es war das reinste Actionpainting, was sie da veranstalteten. Jackson Pollock hätte seine Freude daran gehabt. Doch dann wurden sie jäh unterbrochen. Antons Mutter klopfte energisch an die Tür und rief: „Kommt raus, Kinder, und vergesst nicht, euch den Popo abzuwischen und gründlich zu spülen!“ Da begannen Anton und Franz zu ahnen, dass die Erwachsenen nicht gerade begeistert über ihre Malaktion sein würden. Und so war es denn auch. Franz bekam von seinen Eltern zwei Wochen Hausarrest aufgebrummt, was für so ein geselliges und spielfreudiges Kind wie ihn nahezu die Höchststrafe war. Anton kam mit einer Strafpredigt seiner Eltern davon. Antons Vater zerstörte das anale Kunstwerk der Kinder. Er kratzte die braun beschmierten Tapeten mit einer Spachtel ab, tapezierte neu, diesmal mit geblümten Tapeten, und die Ordnung und Ästhetik der Übermacht der Erwachsenen waren wiederhergestellt. Dieses erste Malerlebnis blieb für Anton prägend. Als Jugendlicher entwickelte er eine Leidenschaft für die Malerei, wobei er im Grunde genommen genauso weiter malte wie damals auf dem Klosett, nur mit anderen Materialien, mit Farbe und Pinsel auf Papier, Karton, Holzplatte oder Leinwand. Aus Sicht der Psychoanalyse könnte man sagen, Antons Malerei war eine Sublimierung der analen Phase.

3

Als Anton fünf Jahre alt war, spielte er manchmal mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft in der Ruine einer zerbombten Flugzeugfabrik, die sich in der Nähe der Arbeitersiedlung befand, in der sie wohnten, und die nur schlecht durch einen Drahtzaun abgesichert war, unter dem die Kinder durchkriechen konnten. Eines Tages entdeckten sie dort einen Toten. Sie konnten nur seinen verwesten Brustkorb zwischen den Trümmern sehen, unter denen er lag. Sie bekamen einen gewaltigen Schreck und spielten danach nie wieder in der Ruine. Den Eltern trauten sie sich nicht dies zu erzählen, da diese ihnen strengstens verboten hatten, zu der Fabriksruine zu gehen. Danach wurde Anton nachts oft wach und bildete sich ein, das Gespenst des Toten lauere in einer Ecke des Kinderzimmers und beobachte ihn in der Dunkelheit. Er rannte dann in Panik ins Schlafzimmer seiner Eltern und suchte Schutz in ihrem Bett, wobei er sich zwischen sie legte. Die Eltern waren darüber nicht immer erfreut, weil sie vielleicht gerade Sex machen wollten. Irgendwann wurde sein Vater so ärgerlich, dass er ihn aus dem elterlichen Bett verjagte. Danach traute sich Anton nicht mehr ins Bett der Eltern zu fliehen. Von da an musste er mit dem Gespenst des Toten im Kinderzimmer alleine klarkommen. Das war schrecklich. Er konnte kaum einschlafen, da er befürchtete, das Gespenst könnte ihn im Schlaf überfallen und ihm Schlimmes antun. Als er älter wurde, glaubte er zwar nicht mehr an Gespenster, aber das Gespenst erschien ihm nun in immer wiederkehrenden Albträumen, aus denen er schweißgebadet und am ganzen Leib zitternd aufwachte. Im Alter von neunzehn Jahren ging er deshalb zu einem Psychoanalytiker. Die Psychoanalyse dauerte nur knapp zwei Jahre, was nicht lang ist, denn manche Analysen dauern mehrere Jahre. Gegen Ende seiner Analyse sah Anton das Gespenst immer mehr in der Person seines Psychoanalytikers verkörpert. Diesen empfand er jedoch nicht als furchterregend, sondern vielmehr als ziemlich schrullig. Durch diese neue Sichtweise wurde Anton geheilt. Das Gespenst erschien ihm nie wieder im Traum.

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© 2022 Johannes Morschl
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