Episoden aus dem Leben eines Exil-Wieners in Westberlin

Von Johannes Morschl

An einem Sonntagnachmittag im August 1981 lag Long John, wie er von griechischen Freunden aus Kreta, wo er sich des Öfteren aufgehalten hatte, und auch von seinem ehemals besten Freund in Wien und ihrer beider zeitweise gemeinsamen französischen Geliebten genannt wurde, in seiner Hinterhofwohnung im 3. OG in der damals noch ziemlich heruntergekommenen Crellestraße in Berlin-Schöneberg auf seinem Bett. Er hatte gerade eine Picasso-Biografie zu Ende gelesen, die zu einem beträchtlichen Teil aus Tratschgeschichten über den Meister und die Frauen bestand, viel auch über dessen Leidenschaft für den Stierkampf und Freundschaften mit Toreros. Auf seinem eigenen künstlerischen Weg war Long John eine Zeit lang von frühen Bildern Picassos aus dessen blauer Periode beeinflusst gewesen, – ausgemergelte Gestalten in schummrigem Licht, alles in Blautönen -, die seine melancholische Grundgestimmtheit ansprachen. Er hatte sich ebenfalls an blauen Bildern versucht, hatte es aber dann sein lassen und ging zu Aktbildern über, für die ihm Freundinnen Modell standen.

So gegen 17 Uhr kam Mary vorbei, eine Physik-Studentin, die sich mit gelegentlicher Prostituion ihr Geld verdiente und Long John Modell stand. Dafür bezahlte er sie, aber für den Sex mit ihr musste er nichts bezahlen. Sie rauchten einen Joint und machten bei offenem Fenster Sex, der wie immer ziemlich wild war. Auf die Details soll aber hier nicht eingegangen werden. Es handelt sich hier nicht um eine Porno-Geschichte. Jedenfalls hallten ihre Lustschreie im Hinterhof wider. Es beschwerte sich aber niemand. Nur die erzkatholische alte Hausbesitzerin, die alleine in einer düsteren, mit Kruzifixen, Madonnen-Statuetten und Papst- und Heiligenbildern überfrachteten Wohnung im Vorderhaus hauste, und die ihre überwiegend türkischen Mieter vergeblich zum Christentum zu bekehren versuchte, schaute kurz mit verkniffenem Gesicht aus einem ihrer Fenster zum Hinterhof und knallte es dann demonstrativ laut zu. Ein Wunder, dass die Fensterscheiben das aushielten und nicht dabei zu Bruch gingen. Die türkischen Mieter im Haus beschwerten sich nie, bei denen ging es auch nicht immer leise zu. Manchmal war der Hinterhof von Klängen türkischer Musik beschallt, was Long John toll fand. Er fühlte sich dann ein wenig wie in Istanbul, wo er sich im Alter von 19 Jahren ein paar Wochen aufgehalten hatte. Er wohnte dort in einem billigen, ziemlich schäbigen Hotel in der Nähe des Gülhane-Parks, nicht weit von der berühmten Blauen Moschee, – der Moschee Sultan Ahmed -, und der ebenfalls berühmten Moschee Ayasofya, der in eine Moschee umgestalteten einstigen byzanthinischen Kirche Hagia Sophia. Trotz seines Gammler-Aussehens, seiner löchrigen Bluejeans, ungebügelten verwaschenen Hemden und seines schulterlangen Haars wurde er in Istanbul immer freundlich behandelt. Die türkischen Mieter im Haus waren froh, wenn sich über sie niemand beschwerte, denn die Ausländerfeindlichkeit war damals noch viel größer als heute. Sie wurde besonders von der Springerpresse angeheizt. Long John kannte die Ausländerfeindlichkeit auch aus Wien, wo sie mindestens ebenso groß, wenn nicht noch größer war, obwohl es dort viel weniger Ausländer gab. Dort nannte man die überwiegend jugoslawischen Gastarbeiter verächtlich Tschuschn und dichtete ihnen nur die allerschlimmsten Eigenschaften an.

Am folgenden Montag musste Long John wiedereinmal arbeiten gehen und früh aufstehen, denn er hatte kaum noch Geld. Er war damals noch an der Freien Universität Berlin – kurz FU genannt – immatrikuliert, Hauptfach Philosophie, Nebenfach Religionswissenschaften, ging aber nur selten zu Vorlesungen, und dann auch nur zu solchen, die ihn interessierten, wie zu jenen von Klaus Heinrich, der das Buch Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen geschrieben hat. Nein zu sagen war ja auch für Long John immer ein Problem. Er konnte keiner Gelegenheit auf Sex widerstehen, das heißt, auch keinen Fremdgängen, wenn er sich in einer sogenannten festen Zweierbeziehung befand. Eigentlich war er aber nur an der FU immatrikuliert, um über das Studentenarbeitsamt Heinzelmännchen Jobs zu bekommen. Von seinen Bildern konnte er ja nicht leben. Er stellte zwar ein paar Mal in Kreuzberger Künstlerkneipen wie der Nulpe in der Yorckstraße und dem La Bohème in der Nostitzstraße aus, verkaufte auch ab und zu ein Bild, aber viel zu selten und viel zu billig. Von so einem Bildverkauf konnte er höchstens zwei, drei Wochen leben, wobei hinzu zu fügen ist, dass er mit Geld nicht umgehen konnte, er gab es viel zu schnell aus.

An dem besagten Montag fuhr Long John frühmorgens in die Wiclefstraße in Moabit, wo die  Schaubühne, ein durch die Inszenierungen von Peter Stein international bekannt gewordenes Westberliner Theater, bei dem er über das Studentenarbeitsamt einen Job als Aushilfskraft bekommen hatte, ihr Magazin, ihre Schlosserei und Tischlerei hatte. Diese sollten in die neuen Räume am Lehniner Platz am Kurfürstendamm verlagert werden, wohin die Schaubühne  von ihrem alten Standort am Halleschen Ufer in Kreuzberg umgezogen war. Am Halleschen Ufer hatte es zu wenig Platz gegeben, weshalb man das Grundstück in der Wiclefstraße mit den zwei Gebäuden darauf – eines für das Magazin und eines für die Schlosserei und Tischlerei – gebraucht hatte. Long John war dem Magazin zugeteilt worden. Der Chef des Magazins war ein junger Freak, der mit kreisrunden grünen Sonnenbrillen herumlief. Long John verstand sich sofort gut mit ihm. Gleich am ersten Arbeitstag musste Long John mithelfen, Schweißgeräte, Drehbänke und anderes schweres Zeug auf einen Lastwagen zu laden. Er schwitzte dabei wie eine Sau. Nachmittags, nachdem die Schlosser und Tischler Feierabend gemacht hatten und nach Hause gefahren waren, lud ihn der junge Chef des Magazins in sein kleines Büro im Magazin-Gebäude ein, um mit ihm ein Pfeichen zu rauchen. Sie rauchten ein Pfeifchen mit schwarzem Afghan, einem stark wirkenden Haschisch, von dem der junge Chef ein kleines Piece dabei hatte. Während Long John danach arbeitsunfähig war, so war der junge Chef eher aufgedreht, ging auf den Hof und setzte sich auf einen Gabelstapler, mit dem er aus Gaudi kreuz und quer im Hof herumkurvte. Eine halbe Stunde vor ihrem offiziellen Arbeitsschluss machte der junge Chef den Laden dicht und sie fuhren mit der U-Bahn nach Hause, wobei sie mehrere Stationen gemeinsam mit der gleichen U-Bahn-Linie fuhren. Da Long John so stoned war, dass er völlig die Orientierung verloren hatte, musste ihm der junge Chef erklären, wo sie sich gerade befanden und bei welcher Station er aussteigen müsse. Long John fragte sich noch Jahre später, wie er es damals in seinem Zustand geschafft hatte, sich nicht zu verirren und heil in seiner Wohnung anzukommen.

Trotz der mit den Deutschen gemeinsamen Sprache und der mehreren Jahre, die Long John schon in Westberlin lebte, fühlte er sich wie ein Fremder. Dass er ein solcher war, ließen ihn vorallem die Behörden spüren. Dabei war er als Österreicher noch relativ gut dran, die Türken wurden viel schlechter behandelt. Als er wiedereinmal zur Ausländerpolizei im Wedding gehen musste, um seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, sagte ihm der Beamte, mit dem er es zu tun hatte, herablassend wohlwollend: „Ihr habt ja auch einmal zu uns gehört.“ Long John musste sich zusammenreißen, um nicht etwas zu entgegnen, was die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ernsthaft gefährdet hätte. Den Türken, der vor ihm dran war, hatte der Beamte angeschnauzt, er solle erst mal richtig Deutsch lernen. Da möge sich keiner wundern, dass Long John von der internationalen Solidarität des Proletariats und einer libertären, klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft träumte. Von den sogenannten sozialistischen Ländern hielt er aber überhaupt nichts. Das waren für ihn total verbürokratisierte Staats- und Partei-Diktaturen, in denen die Freiheit des Einzelnen nicht vorkommen durfte. „Proletarier aller Länder vereinigt euch-, ja, aber auch gegen diese Apparatschik-Diktaturen mit ihrer Zwangskollektivierung des Geistes, die sich auf euch berufen“, dachte Long John.

So ein Leben ist vorübergehend wie ein Hauch, und zum Glück waren es auch die Fließbänder, an denen Long John – über das Studentenarbeitsamt vermittelt – gejobbt hatte. In einer Brotfabrik arbeitete er an einer Brotschneidemaschine. Vorne wurden die Brotlaibe von Arbeiterinnen aufs Fließband gelegt, wurden dann von der der Maschine in Scheiben geschitten, und er musste sie hinten vom Band herunternehmen und in Kartons verstauen. Das Fließband war ziemlich schnell eingestellt, er musste sich total darauf konzentrieren, die Brotscheiben schnell genug vom Band zu nehmen, damit es zu keinen Staus kam und die Brotscheiben vom Band nicht herunterfielen. Man hatte da keine Sekunde Zeit zum Nachdenken. Man war sozusagen lebender Teil der Maschine. Immer dieselben Handgriffe, immer nur auf das Fließband starrend, immer nur die ratternden Geräusche der Brotschneidemaschine, und dies stundenlang, nur von einer halbstündigen Essenspause unterbrochen. Einmal gab es einen für Long John unvergesslichen Vorfall, als ein großgewachsener junger Schwarzer, – so wie er vom Studentenarbeitsamt vermittelt -, der auch an einem Fließband arbeitete, plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach und das Fließband auf Nimmerwiedersehen verließ. Beim Weggehen rief er: „Die Deutschen sind verrückt!“

Ein anderes Mal hatte Long John einen Fließbandjob in der Nachtschicht in einer Rasierklingenfabrik. Da arbeiteten fast ausschließlich türkische Männer, – Frauen durften nicht in der Nachtschicht, sondern nur in der Tagschicht arbeiten -, dazwischen ein paar studentische Hilfskräfte, die billige Arbeitskräfte waren, da man für sie keine Sozialabgaben zahlen musste. Die Arbeit wurde von einem deutschen Vorarbeiter beaufsichtigt. Nachts waren die Fließbänder langsamer als am Tag eingestellt und es gab einen Nachtzuschlag. Die Türken an dem Fließband, dem Long John zugeteilt war, lachten viel und machten gerne Witze über den deutschen Vorarbeiter, aber alles auf Türkisch. Der Vorarbeiter verstand zwar nicht, was sie sagten, merkte aber an ihren Blicken, dass sie über ihn lachten, und war sichtlich verunsichert. Er ging öfters weg, um eine Zigarette zu rauchen. In der Essenspause boten sie Long John immer etwas von ihrem mitgebrachten Essen an. Er versuchte mit ihnen über Politik zu diskutieren, wollte sie anagitieren, aber darauf ließen sie sich nicht ein. „Politik ist überall Scheiße“, sagte einer. Sie redeten lieber über türkische Fußballklubs wie Fenerbahce, Galatasaray und Besiktas Istanbul.

Eines Tages kam ein aus New York stammender schwarzer Student dazu, der in den USA zuerst Anhänger der Black-Power-Bewegung war und dann ein Black Muslim, ein Anhänger von Malcolm X wurde. Er trug immer den Koran bei sich und versuchte mit den türkischen Kollegen über den Koran zu diskutieren, doch diese blieben freundlich reserviert und nannten ihn spaßeshalber „Prophet“. Sie schienen mit Religion nicht viel am Hut gehabt zu haben. Einmal traf Long John den Black Muslim in der U-Bahn auf dem Weg zur Nachtschicht. Sie waren spät dran und mussten unbedingt nach der U-Bahnstation, bei der sie aussteigen mussten, den nächsten Bus zur Rasierklingenfabrik bekommen, dessen Haltestelle sich in einiger Entfernung befand. Sie rannten von der U-Bahnstation in Richtung Busstation. Draußen war es schon dunkel. Plötzlich quietschende Autoreifen neben ihnen, zwei Zivis (Polizisten in Zivilkleidung) sprangen aus einem Auto. Einer der beiden Zivis sagte zu ihnen: „Warum habt ihr es so eilig? Habt ihr etwas ausgefressen? Zeigt uns eure Ausweise!“ Long John erklärte ihnen, dass er und sein Kollege auf dem Weg zur Nachtschicht in der Rasierklingenfabrik waren und nur deshalb gerannt sind, um den Bus zur Fabrik zu bekommen. Long John ließen sie nach Vorzeigen seines Studentenausweises in Ruhe, doch seinen schwarzen Kollegen überprüften sie per Funk, ob er polizeilich gemeldet wäre, eine Aufenthaltserlaubnis hätte, undsoweiter. Auch in der Rasierklingenfabrik riefen sie an und fragten, ob er da auch wirklich arbeiten würde und ob das legal sei. Long Johns Kollege regte sich über das Verhalten der Zivis auf, das wäre ihm hier schon öfters geschehen, abends von der Polizei angehalten und kontrolliert zu werden, nur weil er ein Schwarzer war. Es war ziemlich eindeutig, dass er und Long John nur deshalb angehalten wurden, weil es den Zivis höchst verdächtig vorgekommen war, einen Schwarzen in der Dunkelheit rennen zu sehen. Nachdem sich geklärt hatte, dass der schwarze Kollege ganz legal hier lebte und als Student jobben durfte, wurden die Zivis etwas höflicher, und als der schwarze Kollege sie aufforderte, Long John und ihn zur Fabrik zu fahren, da sie wegen ihnen den Bus versäumt hätten und zu spät zur Nachtschicht kommen würden, machten sie das sogar. Damit hatte Long John gar nicht gerechnet. In der Fabrik fragten sie allerdings nochmal nach, ob man dort den schwarzen Kollegen kennen würde. Das war deutscher Alltagsrassismus pur.

Long John hatte auch noch an anderen Fließbändern gearbeitet, hatte erlebt, wie manche, die seit Jahren am Fließband arbeiteten, einen Fließbandkoller bekamen, so wie Knackis manchmal einen Zellenkoller bekommen. Man hat sie dann zum Betriebsarzt geschickt, der sie für ein paar Tage krank schrieb, und dann ging es wieder ans Fließband zurück.

Übrigens, das genialste künstlerische Statement zum Thema Fließbandarbeit ist Charlie Chaplins Film Modern Times von 1936. Wer ihn noch nicht kennen sollte: Unbedingt angucken!

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