Von Anna B.
- Kein wirklicher Abschied
Zu viele Bücher darben in meiner kleinen Wohnung in vier hohen Regalen staubig dahin. Ich brauche mehr Platz, weniger Staubfänger. Es wäre auch gut, wenn ich mich von vielen und nicht mehr benutzten Dinge verabschieden könnte, bevor meine Neffen die Wohnung besenrein an die Hausverwaltung übergeben müssen. Dazu gehören viele Bücher. Einige werde ich sicher behalten.
Die Bücher lauschen mit ihren spitzen Blätterohren meinen Gedanken. Da melden sich einige Bände mit Schriften von Marx, Lenin und Mao Tse-tung: „Was will sie? Jahrzehnte hatten wir hier ein ruhiges, gemütliches zu Hause und jetzt will sie uns verbannen. Frechheit!“
Zwei Bände „Die Geschichte der Philosophie“ und die Hegel-Gesamtausgabe finden tröstliche Worte und antworten im Chor: „Geh, macht Euch nicht ins Hemd. Wir landen sicher nicht auf dem Müll. Außerdem weiß Sie gar nicht, wohin mit uns. Und wer schafft uns weg, falls sie einen Abnehmer finden sollte? Sie ist doch nicht mehr so mobil und kräftig, dass sie uns in Kisten die drei Stockwerke hinunterträgt, in ihr Auto packt und uns irgendwo hinbringt.“
Taschenbuchausgaben verschiedener Wissenschaftler und Philosophen kommentieren selbstreflexiv: „Naja, so wie wir ausschauen – zerlesen und vollgekritzelt – kann sie uns auch im Altpapier entsorgen. Irgendwie verständlich, kein Mensch interessiert sich mehr für unsere anachronistischen Ideen und alten Erkenntnisse und ihre unleserlichen Randbemerkungen.“
Aus der Belletristik-Abteilung rebellieren gleich einige Reihen gebundener Kollegen: „Nein, uns trägt sie sicher nicht weg, sie liebt uns doch und wenn sie nicht mehr ist, gibt es viele, die uns gerne mindestens genauso liebevoll übernehmen werden. Wir bleiben da. Darauf wetten wir unsere Einbände.“
Manche flüstern vor sich hin: „Ein Wunder, dass sie einige von uns nicht schon längst entsorgt hat. Schrott und Schund, nicht wirklich lesenswert, sinnloses Wissen …. “ Der Rest schweigt und harrt der Dinge, die da kommen mögen.
Es wird vermutlich nicht viel kommen. Hier und da landet ein Sack Bücher, die ich nie wieder beachten werde, in einer Büchertauschinsel, auf einem Platz nicht weit von meiner Wohnung. Hier und da verschenke ich gut erhaltene Exemplare an Freunde. So entstehen Lücken in den Regalen, die aber schnell wieder gefüllt werden. Ein Besuch in einer Buchhandlung, Geburtstag und Weihnachten bringen Nachschub. So wird das nie was mit Platzgewinn und Rücksicht auf meine Neffen. Die Bücher haben Recht, einiges werde ich weggeben, die Mehrheit bleibt bei mir und wird hier und da entstaubt.
- Ein wirklicher Abschied
Vor einigen Wochen starb ein guter Freund, schon wieder einer. Einer, der mir lieb war, den ich schätzte; fast hätte ich mich vor vielen Jahren in ihn verliebt. Wir waren uns aber darin einig, dass eine Beziehung jenseits von Gesprächen, Essen, Weintrinken, Spaziergängen und gegenseitigen Besuchen lieber nicht gewagt werden sollte.
In den letzten Jahren hatte wir kaum noch etwas miteinander zu tun, ich dachte aber oft an ihn, wollte Kontakt haben. Er hatte sich aber bis auf die Verbindung zu ganz wenigen Freunden völlig zurückgezogen.
Dann hörte ich von seiner Krankheit und wenig später von seinem Tod. Ich durfte an der Donaubestattung teilnehmen. Wir waren nur ganz wenige Leute. Da stand die Urne, sehr elegant, rostrot mit rauer Oberfläche. Ich starrte sie an und meine Augen wurden feucht. Er kam heraus, in voller Größe in schwarzer Hose, schwarzem Rollkragenpullover gekleidet mit einem hellblauem Seidenschal um den Hals, Lackschuhe, ein Buch unter dem Arm, er sah uns an und sagte: „Gut habt ihr das gemacht, kein Sarg, kein Grab, keine Zeremonie, keine Reden, ihr seid einfach nur da. Seltsam, dass hier auch zwei Frauen sind, zu denen ich keinen Kontakt mehr hatte, die ich vor vielen Jahren sehr gern hatte. Ihr ward schön und halbwegs gescheit. Offenbar seid ihr mir treu im Herzen geblieben. Danke!“ Die Urne wurde ins Wasser gelassen, wir sahen ihr nach, darüber schwebte seine Gestalt und winkte uns zu, wir winkten zurück. Dann verschwanden er und die Urne. Seine Gestalt wird noch oft in meinen Gedanken leben und erst sterben, wenn auch ich nicht mehr denken kann.
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© 2022 Anna B.
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