Brotlose Kunst

Von Johannes Morschl

Berlin, ein Samstagnachmittag Ende Januar 2018, es dämmert bereits. Der alte Franz Wunderlich sitzt zu Hause an seinem Schreibtisch und sinniert über sein Dasein als Schriftsteller.

Warum musstest du ausgerechnet Schriftsteller werden? Das ist brotlose Kunst, besonders wenn man so wie du nur schräges Zeug über Außenseiter und Sonderlinge schreibt. Wer will das schon lesen? Und wozu liest du dauernd auf offenen Lesebühnen? Nur um deine Eitelkeit zu befriedigen? Das Publikum applaudiert ja bei allen Lesenden, und sei es nur aus reiner Höflichkeit, oder weil es nichts verstanden hat und dieses Nicht-Verstehen mittels Applaus verbergen will. Wenn du gelesen hast, achtest du immer genau auf die Länge und Stärke des Applauses, so als hätte der Applaus irgendeine besondere Bedeutung, obwohl er vollkommen bedeutungslos ist. Von Bedeutung wäre nur, wenn es dem Publikum den Applaus verschlagen würde, wenn dem Publikum die Spucke weg bliebe und es nur noch wie die Kühe glotzen würde.

Du aber möchtest unbedingt in deiner lächerlichen Eitelkeit befriedigt werden, du bist geil auf Applaus, du bist applaussüchtig. Entspricht der Applaus nicht deinen Erwartungen, wirst du unwirsch und unterstellst dem Publikum, keine Ahnung von wahrer Literatur zu haben, was vollkommen unsinnig ist, da das Publikum ohnehin keine Ahnung von Literatur hat, ja es ist geradezu absurd, von einem Publikum Ahnung von Literatur zu erwarten und sich vom Applaus eines Publikums abhängig zu machen. Was man sich im Publikum wirklich denkt, soweit man das überhaupt als Denken bezeichnen kann, denn in der Regel handelt es sich um ein vorurteilbehaftetes Denken, das von irgendwelchen fragwürdigen Vorlieben geprägt ist, erfährst du höchstens in Kneipengesprächen nach einer Lesung. Du erfährst zwar nicht unbedingt, was man über dich denkt, aber was man über nicht Anwesende denkt. Solche Kneipenrunden nach einer Lesung sind die reinsten Tratschrunden, wo man über nicht Anwesende herzieht. Du kannst dann höchstens Mutmaßungen anstellen, wie man über dich reden würde, wenn du bei so einer Kneipenrunde nicht dabei wärst.

Hier drei Beispiele, was in so einer Kneipenrunde in deiner Anwesenheit über Nichtanwesende geredet wurde. Es war in einer dieser schmuddeligen Absturzkneipen in der Adalbertstraße nahe vom Kottbusser Tor, wo sich die Leute dichtgedrängt an den Tischen und am Tresen bis zur totalen Besinnungslosigkeit volllaufen lassen. Die hier wiedergegebenen drei Beispiele beziehen sich auf den Leseabend einer offenen Lesebühne Anfang November letzten Jahres, wo auch du gelesen hast. Es war dein letzter Auftritt auf dieser Lesebühne, danach konntest du nicht mehr an dieser Lesebühne teilnehmen, da sich alles in dir dagegen sträubte.

Erstes Beispiel: „Der kleine Mann, der gleich am Anfang las, hat so leise gesprochen, dass man ihn nicht einmal in der ersten Reihe verstehen konnte. Aber wahrscheinlich war es auch besser so, dass man ihn nicht verstehen konnte, denn sonst wäre man schon zu Beginn der Lesung eingeschlafen. So aber strengte man sich an, genau hinzuhören, um überhaupt irgendetwas verstehen zu können, und dies hielt einen wach.“ Dem konntest du ausnahmsweise zustimmen, wobei du sowieso etwas schwerhörig geworden bist – Altersschwerhörigkeit -, und zum Glück ohnehin nur das Wenigste von dem verstehst, was bei so einer Veranstaltung gelesen wird.

Zweites Beispiel: „Diese Schauspielerin, die seit Kurzem hier liest, ist wie eine Furie in einem Höllentempo und mit einer sich fast überschlagenden Stimme, bei der einem angst und bange werden konnte, über die Männer hergezogen, und das alles noch dazu in Reimen. Da griff sich so mancher Mann unwillkürlich in den Schritt, um zu überprüfen, ob alles noch dran sei.“ Hier ergriffst du aber Partei für die Schauspielerin, zumal sie auch so laut gelesen hat, dass du ausnahmsweise fast jedes Wort verstanden hast. Du sagtest: „Das war endlich einmal ein wahres literarisches Feuerwerk, was die Frau da losgelassen hat, und nicht so eine bemühte Literatur, wie sie hier oft zu hören ist.“

Drittes Beispiel, in dem es um den Gründer und Leiter der Lesebühne ging, der zu Beginn jeder Lesung eine Einleitungsrede hielt und danach eigene Gedichte vortrug: „Er hat wieder derart tragische Gedichte gelesen, dass es kaum auszuhalten war. Und davor laberte er wieder viel zu lange. Es ist immer dasselbe, man kennt es schon auswendig. Dass er heute eine halbe Ewigkeit lang gelabert hat, lag unübersehbar an den beiden jungen attraktiven Russinnen, die ganz vorne saßen und von denen er kaum seine Blicke abwenden konnte.“ „Na, nicht nur er“, dachtest du. Du hast auch dauernd zu ihnen geguckt und garnicht zugehört, was der Leiter laberte.

Und was hätte man über dich sagen können? Vielleicht: „Die Geschichte, die Franz, der wunderliche Wiener gelesen hat, dürfte autobiographisch gewesen sein. Er scheint nur noch ein Verhältnis mit seinem Schwanz zu haben, mit dem er wohl auch redet, obwohl ein Schwanz nicht sprechen kann. Aber wer weiß, vielleicht hat er seinem das Sprechen beigebracht und sie unterhalten sich auf Wienerisch: ‚Servus Schwanzi!‘ ‚Servus Franzi!’“ Dies wäre aber ein grobes Missverständnis, da die erwähnte Geschichte von dir nur scheinbar autobiographisch ist.

Doch wechseln wir das Thema. Warum bist du nach dem erwähnten Kneipenbesuch nach dem Leseabend im November letzten Jahres mit jener sich im schwierigen Alter von Mitte Vierzig befindlichen Dichterin, die auch gelesen hat und auch zu der erwähnten Kneipenrunde gehörte, noch in eine andere dieser Absturzkneipen in der Adalbertstraße gegangen? Sie bildete sich ein, dass du etwas von ihr wolltest, und nahm dir nicht ab, dass es nicht so war. Als du sie nach ihrer privaten Lebenssituation fragtest, worauf sie nur äußerst widerstrebend einging, sagte sie plötzlich völlig unvermittelt: „Die Juden sind an allem schuld.“ Auch war sie der festen Überzeugung, dass es eine jüdische Weltverschwörung gebe. Du fielst aus allen Wolken. Anstatt sofort zu gehen, fragtest du sie mehrmals, ob sie das tatsächlich glaube oder dich nur provozieren wolle. Sie beharrte auf ihrem Antisemitismus. Du versuchtest sie vergeblich zu überzeugen, dass es totaler Schwachsinn sei, was sie da über die Juden sage. Als du dich endlich aufraffen konntest, die Kneipe zu verlassen, war es schon gegen zwei Uhr nachts.

Draußen war eine feuchtkalte Luft und kein einziger Stern war am Himmel zu sehen. Du wolltest bis zum U-Bahnhof Kochstraße laufen, um etwas nüchterner zu werden, und von dort mit dem Nachtbus nach Hause fahren, liefst aber irrtümlich in die falsche Richtung, – Richtung Görlitzer Bahnhof. Als du durch eine dunkle menschenleere Straße wanktest, tauchten plötzlich wie aus dem Nichts zwei maskierte junge Männer vor dir auf, die dir den Weg verstellten. Dann ging alles sehr schnell. Der eine begann an dir herumzufummeln und murmelte dabei etwas, das dir wie ein dadaistisches Gebrabbel vorkam, während dir der andere flink mit geübten Fingern deine Brieftasche aus der vorderen rechten Hosentasche zog. Ehe du in deinem desolaten Zustand begriffst, dass dies kein Albtraum, sondern Realität war, rannten die beiden schon wieder weg. Du riefst ihnen nach: „Hey Jungs, ich bin ein armer alter Künstler! Gebt mir meine Brieftasche zurück!“ In deiner Brieftasche befand sich nicht nur Geld, darin steckten auch deine Bankkarte zum Geldabheben an Geldautomaten und die Gesundheitskarte von deiner Krankenkasse. Tatsächlich kam einer der beiden bis auf ein paar Meter zu dir zurückgelaufen und warf die Brieftasche auf den Bürgersteig. Dann lief er wieder zu seinem Kumpel und sie verschwanden in der Dunkelheit. Du kontrolliertest sofort deine Brieftasche. Das Geld war weg, aber zum Glück waren die Karten noch da. Das geklaute Geld konntest du verschmerzen, es handelte sich bloß um ein paar Euro. Auf die Idee, die Polizei herbeizurufen, kamst du erst gar nicht. Dein einziger Wunsch war, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, was du dann ohne weitere Zwischenfälle auch geschafft hast.

Diese Vorfälle beschäftigen dich noch immer. Inzwischen empfindest du sogar ein gewisses Mitleid mit der antisemitischen Dichterin und den beiden jungen Straßenräubern. Wer weiß, was bei denen alles schiefgelaufen ist und in welch schwierigen Lebenslagen sie sich befinden. Aber Antisemitismus ist für dich das Allerletzte. Den konntest du nicht stillschweigend übergehen. Die Dichterin hat sich völlig irrational einen Außenfeind konstruiert, dem sie an allen Übeln der Welt die Schuld geben konnte. Dafür mussten wieder einmal die Juden herhalten. Und die beiden Straßenräuber waren vielleicht Flüchtlinge, die keine Chance auf einen gesicherten Aufenthaltsstatus und eine Arbeitserlaubnis hatten, vielleicht auch obdachlos waren und sich mit Dealen im Görlitzer Park und manchmal auch mit Raubüberfällen über Wasser hielten. Laut Berliner Kriminalstatistik gehört die Gegend um das Kottbusser Tor, in der du überfallen wurdest, zu jenen Orten in der Stadt, wo es die meisten Taschendiebstähle und Raubüberfälle gibt.

Dass aber ausgerechnet du überfallen wurdest, entbehrt nicht einer gewissen Absurdität, denn du gehörst zu jenen Einwohnern Berlins, deren monatliches Einkommen unter der statistischen Armutsgrenze liegt. Gegenüber den Flüchtlingen und immer mehr werdenden Obdachlosen bist du trotzdem noch ein Privilegierter. Du hast eine unbeschränkte Aufenthaltserlaubnis, ein Dach über dem Kopf, und bekommst eine kleine Rente plus Grundsicherung vom Sozialamt. Gegenüber den Problemen und Sorgen von Flüchtlingen und Obdachlosen sind deine die eines Privilegierten, der zwar am unteren Ende der sozialen Leiter steht, aber noch mit beträchtlichem Abstand über den Flüchtlingen und Obdachlosen.

Seit diesen Vorfällen bist du nicht mehr zu dieser offenen Lesebühne gegangen. Du hattest dir aber schon davor des Öfteren überlegt, nicht mehr zu dieser Lesebühne zu gehen, da die dortigen Lesungen immer ewig lange dauerten und du die immer gleichen Sprüche des Leiters nicht mehr hören konntest. Am Anfang hattest du seine Sprüche noch witzig gefunden, aber nach der soundsovielten Wiederholung begannst du die Augen zu verdrehen. Du kanntest ihn seit alten wilden Kreuzberger Zeiten, als Berlin noch geteilt war, und hattest so manch lustiges Erlebnis mit ihm. Du gehörtest einst sogar zum engsten Kreis um ihn.

Es fiel dir aber nicht leicht, dich von dieser Lesebühne zu verabschieden. Du konntest dort immer lesen, egal was und wie gut oder schlecht es war. Du hast dich dort mit anderen Autorinnen und Autoren befreundet. Du hast dort dein Schreiben intensiviert und weiterentwickelt. Insofern hast du dieser Lesebühne viel zu verdanken. Dies vor allem hinderte dich daran, ihrem Leiter offen deine Meinung zu sagen, wenn dir etwas an seinem Verhalten gestört hat. Er war ohnehin sehr verletzlich. Andererseits lästerte er gerne über andere, selbst wenn sie ihm treu ergeben waren und nichts über ihn kommen ließen. Er war jedoch nicht der einzige, der in diesem Kreis über andere lästerte. Du gehörtest auch dazu. Nun war aber das Lästern über Kolleginnen und Kollegen kein spezifisches Merkmal dieser Lesebühne. Dieses Lästern hat es schon immer in Literatenkreisen gegeben. Selbst ein Goethe konnte sich das Lästern nicht verkneifen, zum Beispiel über Kleist und E.T.A. Hoffmann, die er beide für nicht ganz dicht im Kopf hielt.

Du hast auf dieser Lesebühne anfangs nur Gedichte gelesen, die niemand verstand, ja zum Teil nicht einmal du selbst, da sie dir wie Eingebungen aus einer anderen Welt gekommen sind. Der Applaus des Publikums war immer recht spärlich. Dann stiegst du auf das Schreiben von Kurzgeschichten um, mit denen du viel mehr Erfolg beim Publikum hattest. Du kamst schließlich immer als letzter vor der Pause zum Lesen dran, um das Publikum wieder zu wecken, nachdem es schon am Einschlafen war und die Gefahr bestand, dass einige Leute bereits in der Pause gehen würden. Da war dir ein geradezu dankbarer kräftiger Applaus sicher, da hattest du leichtes Spiel beim Publikum. Dies hättest du auf anderen Lesebühnen nicht mehr. Da wärst du nur einer unter anderen und hättest keinen Sonderstatus, keinen Vor-Bonus. Du brauchst aber ein Publikum, und sei es auch nur eine Handvoll Leute, auch wenn das unsinnig ist, denn was ist von einem Publikum schon groß zu erwarten? Könntest du überhaupt schreiben, ohne die Möglichkeit zu haben, vor einem Publikum zu lesen? Die Alternative wäre, für eine anonyme Leserschaft zu schreiben, was den Vorteil hätte, dass du diese Leserschaft nicht kennst, ihr nicht wie einem Publikum ausgeliefert wärst, wobei du dich ja immer freiwillig einem Publikum ausgesetzt hast, ja geradezu publikumsgeil warst. Doch dafür müsstest du an einen einigermaßen bekannten Verlag herankommen, der bereit wäre, etwas von dir zu veröffentlichen. An so einen Verlag kommt jedoch jemand wie du, der fast schon ein Greis ist und nur schräges Zeug über Außenseiter und Sonderlinge schreibt, so gut wie garnicht heran. Warum musstest du auch ausgerechnet Schriftsteller werden? Das ist brotlose Kunst.

Der alte Franz Wunderlich blickt auf die über seinem Schreibtisch mit Tesafilm an die weiße Wandtapete geklebte Fotokopie einer berühmten Radierung von Goya mit dem Titel „El sueno de la razon produce monstruos“, – Der Schlaf bzw. Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer -, auf der man den Künstler über seinen Arbeitstisch gebeugt sitzen sieht, den Kopf auf die Arme gelegt, um ihn herum im Halbdunkel flatternde und ihn piesackende Käuze, und hinter ihm auf dem Boden sitzend ein auf ihn starrender Luchs.
Wunderlich erkennt sich in der Radierung wieder.

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