Der Hengst wird erscheinen

Von Michael Wiedorn

Wir saßen im Klassenzimmer und hatten Heimatkunde. Bogenhausen ist viel älter als München. In die menschenleeren Moore und Wälder, die sich hier erstreckten, wanderten die Markomannen aus dem Osten ein. Ein Filmprojektor warf ein Bild, auf dem eine Holzhütte mit flachsgelbem Strohdach und je Giebel zwei gekreuzten Pferdeköpfen erschien, auf eine über die Schultafel gerollte, weiße Leinwand. Beim doppelten Pferdekopf dachte ich an ein urtümliches, feuerschnaubendes, mit den Hufen auf dem Erdboden aufdonnerndes Ungeheuer, das im Laufe der Jahrtausende immer da auftaucht, wo schweres Unglück geschieht. Krieg, Erdbeben, Flutkatastrophen. Niemand weiß, woher es kommt und wo es sich in der Zwischenzeit verbirgt.

Seine zwei feuerroten Schädel erheben sich hoch in den Himmel. Ein Huf knallt mir in den Schritt. Ein schäumendes Pferd galoppiert seinen Reiter in ein regloses Dahinvegetieren im Rollstuhl.

Plötzlich heulten die Sirenen. Fliegeralarm. Frau Krontaler – unsere Lehrerin – hält mit ihrer Rede inne. Sie blickte ganz ruhig aus dem Fenster hinaus auf die Kastanienbäume auf dem Schulhof. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken runter. Unser Lebensweg war jetzt schon zu Ende.

Wahrscheinlich hatten wir heute noch Glück, aber eines Tages wird dieses Heulen Zerstörung und einen qualvollen Tod einleiten. Der Russe wartet an unseren Grenzen um uns den Krieg zu bringen. Wir werden alles verlieren. Ich hatte schon von der Atombombe gehört. Hiroshima erwachte eines schönen Sommermorgens wie alle Tage zuvor zum Alltag von Schulbesuch und Fabrik- und Büroarbeit und es schien die liebe Sonne. Weit über der Stadt erschien ein Kampfflugzeug. Weit oben in den Wolken. Die metallenen Flügel gleißten in der Sonne hoch über den Häusern. Eine Klappe öffnete sich und etwas Unscheinbares fiel in die Tiefe. Und es ward Licht! Eine zweite Sonne des Todes. Licht und hell und mörderisch wie es seit Menschengedenken niemand gesehen hat. Galoppierte in den letzten Tagen ein rätselhafter, flammend roter Hengst durch die Straßen? Aus heiterem Himmel fegten Feuerstürme. Zwei Sonnen. Die neue Sonne grillte den Menschen das Fleisch von den Knochen. Plötzlich. Niemand verstand, ob er träumt oder verrückt geworden ist. Unauffällige Büroangestellte, Schulkinder, Hausfrauen sind in sagenhafte Ungeheuer, in Ausgeburten der Hölle – an deren Existenz bisher niemand glauben konnte – verwandelt worden. Die Haut hing ihnen als Lappen vom Körper. Ihr enthäutetes Fleisch leuchtete brennend rot. Schlagartig kann alles Vertraute und Heimische verschwinden und zusammenbrechen.

Die Sirene heulte. Der Unterricht konnte so lange nicht fortgesetzt werden. Wir saßen entsetzensstarr da und warteten auf die Rückkehr des Alltags oder das Aufbrechen der Erdkugel. Eine Schmeißfliege flog auf meine Bücher und Schulhefte. Sie krabbelte auf der blauer Pappe eines zugeklappten Heftes. Ihre Ruhe war unerschütterlich. In wenigen Minuten wird sie auf unseren aufgedunsenen und stinkenden Leichen spazieren. Der Raum ist voll mit dreißig sonst lärmenden, lachenden und schreienden Kindern und einer gesetzten Frau in mittlerem Alter, aber jetzt hört man nur das durchdringende Tönen der Sirenen und dazwischen das Summen der wieder auffliegenden Schmeißfliege. Die tödliche Stille einer Welt ohne Menschen. Statt der Moore und Wälder der Steinzeit eine vergiftete, strahlende Wüste. Ich blickte zur Decke auf. An der Decke hingen noch Leuchtröhren. Von draußen schien die Sonne. Unter den Fenstern waren noch die weiß gestrichenen Heizkörper angebracht. An einigen Stellen sprang die Farbe ab und das dunkle Metall darunter sah noch heraus. Sehe ich das in meinem Wahn und ich werde gleich zur Wirklichkeit der Leere erwachen.

Heute ist unser aller Tod auf einen anderen Tag verschoben worden. Sicher wird irgendwann die andere Sonne morden. Wir warten auf Gericht und Urteil. Der zweiköpfige, feuerrote Hengst wird dem trauten Heim die Söhne entführen und die Söhne von den Eltern abschneiden. Die Schere wird blutig schneiden.

Das Heulen der Sirenen verstummte.

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