der unbekannte mit dem jutesack (eine begegnung im bergland des hindukush)

Von Heinz Erich Hengel

ich höre ein geräusch; zumindest vermeine ich, etwas gehört zu haben; ich glaube, dass es ein geräusch gewesen sei. ein geräusch in der kameldornsteppe? dort, wo normalerweise junge hirten hinter kameldornbüschen ihre spielchen treiben… so manche sagen, besser ein spatz in der hand als eine taube auf dem dach. (aber: keine katze auf dem heißen blechdach). und das erst recht, wenn der vogel auf dem dach auf die unter dem dach stehenden kackt. so manche glauben, die spur eines fliegenden vogels gesehen zu haben: doch kann man die spur eines fliegenden vogels überhaupt sehen? es ist ähnlich wie das hören einer klatschenden hand: kann doch eine hand alleine gar nicht klatschen. vielleicht haben sie in wahrheit nur einen joint inhaliert und glauben, dass sie in wirklichkeit nichtraucher sind. das geräusch jedenfalls entpuppt sich als das aneinanderreiben von sandkörnern im über die kameldornsteppe hinweg fegenden wind. das geräusch, das der vom wind aufgepeitschte sand verursacht, geht allerdings kontinuierlich in das eigengeräusch des windes über. der wind weht, wo & wohin er will; und man hört nur sein rauschen; das je nach situation & stärke auch zu einem brausen werden kann: dann nämlich, wenn das eigengeräusch des windes infolge seiner kraft alle anderen geräusche übertönt.

plötzlich taucht eine gestalt mit einem sack über der schulter auf. spontan erinnere ich mich an peter handkes mann mit dem seesack: als der mann aufsteht, hebt er den seesack vom boden auf. daraufhin stellt er den seesack wieder am boden ab und wühlt in seinem hosensack; so als ob er etwas bestimmtes suchen würde. am ende des seesacks ist ein strick. der mann hat den strick fest um seine faust geschlungen. das geräusch des windes, der zu einem sturm zu werden droht, verschluckt die schritte des unbekannten mit dem seesack über seiner schulter. ein mann mit einem seesack in der afghanischen kameldornsteppe?: nur allzu leicht könnte einem dabei eine fata morgana in den sinn kommen. es wird ein hirte sein, denke ich mir. warum trägt ein hirte einen sack mit sich? oder ist etwa der sack am rücken des hirten dessen buckel? vielleicht ein buckeliger hirte mit einem löchrigen sack. der gehende scheint vom wind in seinem rücken vorangetrieben zu werden. seine schritte gleichen staubstreifen auf einem feldweg. (doch hier ist weder ein weg noch ein feld). er scheint mit dem staub, den seine schritte aufwirbeln, in einen lautlosen kampf verwickelt zu sein. langsam lösen sich die sandkörner aus dem sandigen boden und wirbeln in die höhe. die bewegung des sandstaubs erscheint wie eine geliehene bewegung einer flutwelle in einem ausgetrockneten bachbett. oft hat es den anschein, als würde sich der unbekannte an seinen ominösen sack anzuhalten versuchen. dann wiederum scheint es, als ob der sack, der vielleicht gar kein sack ist, den fremden niederzudrücken drohe. ich kann aus der ferne die blicke des mannes nicht erkennen. in der mittagshitze hat man oft das gefühl, als würde all der sand & staub in einem riesigen kochtopf zu kochen beginnen; und in der mitte der nacht als kochender absud zum sternenhimmel empor steigen. und tatsächlich: der vermeintliche hirte mit dem angeblichen sack scheint aus allen poren des körpers zu schwitzen; und auf die kühle der nacht zu warten. im schatten des mittags oder der dunkelheit der nacht schrumpfen die gedanken des denkenden zusammen und das denken fixiert sich auf das wesentliche: z. b. das ein- & ausatmen und die konzentration auf die atmung. die gedanken des unbekannten fremden bzw. fremden unbekannten, der vielleicht ein hirte ist, scheinen allerdings ausschließlich um seinen sack zu kreisen. erst als er den (vermeintlichen) sack auf den sandigen boden der ausgedorrten kameldornsteppe gestellt hat, hat er das gefühl, als sei eine last von seinen schultern gefallen. als der mann, der vielleicht / wahrscheinlich ein hirte ist, mich sieht oder wenigstens glaubt, im gegenlicht der sonne jemanden zu sehen, scheint er sich zu fragen, was er mit dem sack nun machen soll: liegen lassen, mitnehmen, aufheben, oder so tun, als sei er gar nicht vorhanden. vielleicht ist er (der sack) in wirklichkeit tatsächlich gar nicht vorhanden oder u. u. gar nicht realität und das ganze war & ist nur eine einbildung: die einbildung eines mannes, einen sack mit sich zu tragen, auch wenn dies gar nicht der wahrheit / wirklichkeit entsprechen würde. die wahrheit kämpft gegen die wirklichkeit und diese gegen die realität. ich allerdings habe wahrlich andere sorgen & probleme, als mich um einen sack zu sorgen, der vielleicht gar keiner ist; und ich bin auch nicht gewillt, mir noch länger über jene sache gedanken zu machen. wohl oder übel gleiten so der mann & der sack zusehends ins unbewusstsein ab. problematisch kann es eventuell dann werden, wenn der ins unbewusstsein verdrängte sack aus dem unterbewusstsein auftaucht, und derjenige, der zuvor gar keinen sack getragen hat, nunmehr vermeint, einen sack mit sich herum zu schleppen…

was aber ist, wenn der unter umständen vermeintliche sack in der realität sehr wohl ein sack ist, in dem sprengstoff wäre. ein sack voll sprengstoff, abgestellt irgendwo in den weiten der landschaft paropamisos. anderswo wäre ein voller sack mit sprengstoff etwas außergewöhnliches, etwas nichtalltägliches, wahrscheinlich ein sogenannter einzelfall; hier aber in afghanistan ist ein mit sprengstoff angefüllter & abgestellter sack, deponiert in den weiten der landschaft, nichts außergewöhnliches & besonderes, sondern eine alltäglichkeit & normalität. so wie der tag mit einer schusswunde beginnen kann, so beginnt der morgen damit, einen vollen sprengstoffsack am wegesrand stehen zu sehen. so manche, die u. u. an diesem sprengstoffsack (sss) vorbei kommen, bleiben nicht einmal stehen und schenken dem ganzen gar keine beachtung. achtsamkeit ist etwas für mutlose; die mutigen allerdings können es sich nicht erlauben, unachtsam zu sein. achtsamkeit ist aber mehr als aufmerksamkeit: diese ist ein ´verharren des bewusstseins` bei der wahrnehmung eines sachverhalts zum zwecke genauer auffassung; ein zustand erhöhter geistiger aktivität. es wird behauptet, dass die ungewissheit zwischen schein & wahrheit durch den augenblick der entscheidung überwunden werden könne. ein verwunderter ausdruck bedeutet das kundtun von verwunderung im inneren nach außen hin: die innenwelt der verwunderung der außenwelt vom inneren zum äußeren: die außenwelt der innenwelt der außenwelt in richtung verinnerlichter außenwelt… ein ständiges kundtun zwischen innen & außen und dem dazwischenliegendem. bei entsprechender achtsamkeit sollte einem im normalfall ein am wegesrand abgestellter sss 1. auffallen und 2. zu denken geben, ob 3. dieser vielleicht nicht gefährlich werden könnte. was aber ist in afghanistan ein normalfall? – wenn das ganze land ein pulverfass ist, so wird es höchstwahrscheinlich auf einen sss mehr oder weniger nicht ankommen. so manche fragen sich, ob es realistisch, sinnvoll oder notwendig ist, sich im bergland des hindukush überhaupt mit achtsamkeit zu beschäftigen. sind doch die pashtunen & taliban islamisten und keine buddhisten.

der mann mit dem jutesack (ich bin mir ziemlich sicher, dass das material jenes sackes jute und nicht hanf ist) scheint näher zu kommen. hanf & jute: beides sind bastfasern. hanf in afghanistan: das thema sollte ja bekannt sein. jute stammt aus dem indischen raum. die aufarbeitung geht ähnlich vor sich wie bei flachs: die stängel der reifen pflanze werden mit wasser (h2o) geröstet; die gerösteten stengel werden händisch von bast befreit; die so gewonnene faser wird im wasser gespült und an der luft getrocknet. kenaf und mesta sind juteähnliche erzeugnisse. anbauschwerpunktländer für jute sind indien & pakistan sowie thailand und nepal. ca. zwei drittel der weltproduktion werden insbesondere für säcke verarbeitet; in indien wird jute auch zur herstellung von stoff verwendet.

auf einmal hat es den anschein, als wäre der unbekannte mit dem jutesack über einen lose gewordene schnürsenkel gestolpert. und um das problem sich lösender schuhbänder hat sich ja bereits – neben ihren weltraumstudien – die amerikanische wissenschaft angenommen: grund sei demnach die verhängnisvolle wirkung zweier kräfte: zum einen lockere sich durch wiederholtes auftreten das zentrum des knotens, zum anderen ziehen die losen enden der bänder, die beim gehen in schwingung geraten, den knoten nach & nach auf. wenn man im sitzen das bein schwingt, würden sich schuhbänder allerdings nicht lockern; das geschehe nur beim gehen. die wissenschaftler konnten folgende zusammenhänge entdecken: beim auftreten erhöht sich die auf den knoten wirkende schwerkraft erheblich. als reaktion auf diese kräfte dehnt und entspannt sich der knoten abwechselnd, wodurch er sich nach & nach lockert. gleichzeitig wirken trägheitskräfte an den losen enden, die beim laufen vor- & zurückschwingen. und diese würden den knoten schließlich aufziehen. das sich lösen von schuhbändern hänge aber auch mit den knotenvarianten zusammen. es gebe schleifenvarianten, deren knoten besser hielten als andere. der sogenannte falsche knoten sei eine variante, die sich besonders schnell löse. der klassische kreuzknoten halte hingegen länger, löse sich schließlich aber auch. die beiden schleifenvarianten unterscheiden sich dadurch, wie beim binden das lose band um die schlaufe geführt wird: von vorne oder von hinten. die forscher raten dazu, einmal selbst mit den schleifen zu experimentieren, um den unterschied herauszubekommen. es konnte nachweislich gezeigt werden, dass der schwache knoten immer kurzfristiger versagt und der starke knoten erst nach einer gewissen zeit; man wisse aber immer noch nicht, wo die entscheidenden mechanischen unterschiede zwischen den beiden knoten liegen. das problem sei alles andere als abschließend erforscht, viele fragen zu den mechanischen grundlagen seien noch offen. auch der einfluss des materials und seiner oberfläche – aber auch vieles andere mehr – sei noch nicht geklärt. das stolpern über lose gewordene schuhbänder kann so also auch weiterhin noch zu einem problem werden; ein problem, das erst dann als gelöst betrachtet werden kann, wenn statistisch gesehen barfüßige genauso oft stolpern wie schnurbandbeschuhte.

als ein reporter der tageszeitung ´afghan.post ltd.` den präsidenten von afghanistan, der nicht vom afghanischen volk gewählt, sondern vom amerikanischen senatskongress in sein amt gesetzt wurde, fragt, wie er die sache mit dem am wegesrand bei den seen von band-i-amir zufällig gefundenem sack voll sprengstoff (von einem sprengstoffsack wollte man absichtlich nicht sprechen) beurteilt, sagt dieser, dass man die situation nicht überzeichnen dürfe, dass das ganze ein einzelfall wäre, ein einzelner fall und keine gesamtheit von fällen, dass ein einzelfall eine singularität und kein pluralismus sei, und dass er trotz allem und aufgrund der faktenlage bestätigt, sehr wohl keine simplifikation betreiben zu wollen, blablahbla; wobei eine falsche simplifikation wahrlich nicht zulässig wäre – sei doch simplifikation eine vereinfachung – und zwar meist im sinne der unzulässigen vereinfachung einer problemlage dadurch, dass entscheidende nuancen, oft absichtlich, übersehen oder teilprobleme für scheinfragen erklärt werden und er wolle keine humanitätsduselei betreiben, er wisse sehr wohl bescheid und er wisse auch was sache ist; er stünde nicht für lösungen von scheinproblemen zur verfügung und erst recht nicht für scheinfragen und man könne ihm keinesfalls vorwerfen, ein vertreter für den singularismus zu sein – er wolle nie alle besonderheiten dieser welt und alle ihre mannigfaltigkeiten aus einem einzigen prinzip ableiten usw. usf. wobei jedes prinzip prinzipiell in sub- & in objektivem sinne zu betrachten sei: als grundsatz und voraussetzung oder als urgrund und ausgangspunkt, als erste ursache – das, woraus etwas ist oder wird; bei subjektiver auffassung können konstitutive und regulative prinzipien unterschieden werden; für ihn sei ein prinzip eine homologie, eine übereinstimmung, eine monade, eine einheit, eine idee…… die antwort des präsidenten von afghanistan, der nicht vom afghanischen volk gewählt, sondern vom amerikanischen präsidenten eingesetzt worden ist, erinnert mich an ähnliche politische antworten im vom hindukush viele tausende kilometer entfernten alpenland: das auftauchen von immer wieder neuen rassistischen liederbüchern sei ein einzelfall – ein einzelfall, der sich immer wieder aufs neue wiederholt; ein einzelfall als fallbeispiel, dass es viele fälle gibt. was alles aber die sache nicht weiter bringt und man vielmehr den eindruck gewinnt, jedenfalls gewinnen könnte, dass man dies (die sache an sich) gar nicht weiter bringen will bzw. möchte. und letztlich hat es den anschein, dass sprengstoffe in afghanistan, sei es nun in säcken transportiert, in kisten gelagert, an straßenrändern, wegkreuzungen oder sonst wo gefunden, nicht einmal einzelfälle sind, sondern zu den gewöhnlichen alltäglichkeiten gehören. früher begann der tag mit einer schusswunde, behauptet wolf wondratschek; in paropamisos beginnt er mit einer sprengstoffdetonation oder bombenexplosion.

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© 2022 Heinz Erich Hengel
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