Von Michael Wiedorn
Auf dem Schiffsdeck werde ich sitzen, umschmeichelt von sanften Winden. Das Leben stammt aus dem Wasser und kehrt dorthin zurück. Ich will mich in einen Fisch verwandeln. Mir werden Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen wachsen. Meine Haut wird glitschig. Die Erdoberfläche soll unter einer alles versengenden Hitze verenden. Der Ruf aus der Tiefe. Nach vollendeter Verwandlung werden wir vom Schiff aus in die Wogen des Atlantiks springen. Ein neues Leben beginnt. In den Weiten erwarten uns Seeigel, Korallen, Wale, Haie, Plastik. Die Städte auf dem Festland sind fast schon menschenleer. Nur die Angestellten im Stockwerk unter mir spielen lärmend Billard. Die übrige Menschheit verwandelt sich. In meiner Wohnung drückt die Hitze. Meine Haut beginnt zu brennen, obwohl die Sonne schon untergegangen ist. Die Haut entzündet sich als einzige, grosse Wunde. Sie schreit. Es ist zu spät. Ich werde das Schiff nicht mehr erreichen. Von irgendwoher höre ich ein Klopfen. Ich bin jetzt hellwach und liege splitternackt auf dem Bett. Ich schwitze ganze Kübel Schweiß. Heute Abend habe ich zu viel getrunken und bin sternhagelblau. Ich versuche vergeblich meinen Oberleib aufzurichten. Der Ventilator dreht sich wie verrückt. Ein Geier dreht sich an der Decke um seine eigene Achse. Er will mich. Er will meinen nackten Körper. Raubvögel stossen ihre Schnäbel in die preisgegebenen Eingeweide der Opfer. Blutige Haken jagen in auf dem Staub liegende Därme. Mich packt jetzt die Angst. Es gelingt mir endlich mich auf meine schwankenden Beine zu stellen. Der Schnabel des Tieres saust von der Höhe herab und schneidet mir wie eine Geflügelschere den Brustkorb entzwei. Mein Körper ist entzweit. Ich werde mein Schiff morgen nicht erreichen. Der Vogel nährt sich von der Kraft und dem Blut der Menschen. Er hat uns die Trockenheit beschert. Die Angestellten aus dem unteren Stockwerk stehen schweigend an meiner lautlos geöffneten Wohnungstüre. Lautlos wie Leichentücher fallen sie über mich her und ziehen mich wieder auf das Bett. Die Laken unter mir sind klatschnass. Die Arme des Ventilators drehen sich an der Decke und werfen anwachsende Schatten. Im nächtlichen Garten vor den geöffneten Fenstern zirpen Grillen. Mitten durch mich hindurch zieht sich ein Schnitt. Stammt die Feuchtigkeit in meinem Bett von Blut oder Schweiss? Ich bin jetzt zu zweit.
Mir gegenüber sitzt eine kugelrunde Frau in meinem Alter mit meinem Gesicht. Wir essen Forelle blau. Ich trenne zuerst mit der Gabel den Kopf von der gedünsteten Leiche – anschliessend die Flossen. Der Fisch atmet durch die Kiemen. Ich atme mit Lunge und Luftröhre. Der Fisch taucht tief hinab in die Tiefen des Feuchten. Der Embryo schwimmt im Brutwasser. Am Boden des Ozeans hausen fischköpfige Menschen mit Schuppen auf der Haut. Arme und Beine haben sich in Flossen verwandelt. Tief unten im Ozean. Sie sprechen nicht und sind völlig geräuschlos. Die schöne Frau mir gegenüber ist hässlich. Sie ist dick. Sie ist fett. Zwei pralle Titten, darunter ein geräumiger, praller Bauch. Trägt sie ein Kind aus? Der scharfe Schnabel eines Raubvogels sticht ihr in das weisse, üppige Fleisch. Die Frau könnte ganze Völkerschaften gebären. Vögel stossen ihre Schnäbel ins Wasser und ziehen zuckende, lebendige Fische aus dem Wasser. Ich schneide vorsichtig mit dem Besteck das Fischfleisch von den Gräten. Die Forelle lässt sich leicht mitten hindurch zerteilen. Ein glatter Schnitt hindurch. An Gräten kann man tödlich ersticken.
Der Sage nach waren die ersten Menschen in der Urzeit Kugeln. Sie wurden in zwei Hälften zerlegt. Das beschmutzte Fischbesteck. Vom Schnabel des fliegenden Räubers tropft Blut. Die Kugeln wurden in Mann und Frau zerschnitten, die sich ein Leben lang suchen werden. Ein alter Fluch. Hier an Deck wehen angenehme Brisen. Die fremde Frau lächelt mir mit meinem eigenen Gesicht entgegen. Ein verfettete Frau mit roher Männervisage. Wir haben uns gefunden. Wir sind ans Ende gekommen. Die Menschheitsgeschichte ist zu ihrem Ziel gelangt. Aus dem Wasser stammt das Leben und kehrt dorthin zurück. Alle Passagiere stehen auf und begeben sich zur Reling. Schwimmhäute wachsen zwischen Fingern und Zehen. Tief unten auf dem Boden schwimmen die schon verzauberten Kollegen und erwarten uns. Es ist dort mild und still. Die scharfen Schneiden der Vögel schneiden uns die Bauchdecken auf.
Amerika und Europa und Asien sind verbrannt und erstickt in der glühenden Hitze. Die Menschen halten sich an den Flossen und vereinigen sich. Das Leben in Afrika und Australien ist verdorrt und hat sich aufgelöst. Wir werden alle Fische sein – heimgekehrt in die Unendlichkeit des Ozeans. Uns wird es gut gehen. Ein menschenleeres Schiff wird verloren auf dem vertrocknenden Ozean treiben.
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© 2022 Michael Wiedorn
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