Fremd im Haus

Von Michael Wiedorn

Das Kind stolpert auf mich zu. Es jauchzt fröhlich und blickt hoffnungsvoll zu mir auf. Mit beiden Händen hebt es einen Ball über seinen Kopf und versucht, ihn mir zuzuwerfen. Der Ball plumpst einfach auf den Boden und rollt ratlos auf dem Teppich auf mich zu. Zwei blaue Kinderaugen blicken erwartungsvoll und zutraulich zu mir hoch. Ein harter Knall gegen das Holz der Biedermeierkommode. Mittelfranken um 1820. Der Junge schreit und schreit, tief bis ins Innerste seiner Eingeweide erschrocken. Das Blut im Gesicht des Kleinen brüllt purpurrot. Meine Hand ist naß und beschmutzt und der Ekel vor den Ausscheidungen des fremden Kindes treibt mich ins Badezimmer.

Meine Frau hat immer von einem Baby geträumt. Wir leben zu dritt in unserem Reihenhäuschen. Ich, meine Frau und der neue Zuwachs. Vier Zimmer auf 100 Quadratmetern. Ein nicht ganz kleiner Garten mit Kirschbäumen, Sträuchern und Blumenbeeten umgibt das Eckhaus auf drei Seiten. Das Haus liegt in Blickweite der Isar am Rande eines großen Parkes – der Hirschau. Ein idealer Ort für eine glückliche Kindheit. Alles für die Kinder! Unser Heim ist vollgestopft mit Biedermeierkommoden, Biedermeiertischen und -stühlen. Feinste Orientteppiche. Die Ahnen meiner Frau blicken aus ihren Goldrahmen verächtlich auf mich herab. Unser schäbiges Reihenhaus schämt sich und sehnt sich danach, sich in ein Schloss zu verwandeln. Die ruhmreiche Vergangenheit des Geschlechtes meiner Frau. Wir haben den Hauskauf durch den Verkauf eines von ihrer Familie geerbten Grundstückes und einem Zuschuss ihrer reichen Großmutter finanziert. Meine Frau wird von ihrer Oma ein Mietshaus in Nürnberg erben. Ein trauriges Überbleibsel des gewaltigen Besitzimperiums ihrer Vorfahren. Ich bin hier im Haus ein Fremder. Die Großmama – la grande Dame, die noch immer auf den Bällen der Belle Epoque schwebt. Die ständige Anwesenheit der Toten überzieht meinen lebendig atmenden Körper mit Spinnweben und Modergeruch.

Ich mag keine Kinder. Keine Kindereien und Spielchen. Ich bin Geschäftsmann, der ernsthafte Arbeit gewohnt ist. Ich rechne und kalkuliere mit Zahlen und Tatsachen. Es geht um Milliardenaufträge, um Arbeitsplätze, um den Wiederaufbau unseres Landes. Kinder erniedrigen Erwachsene zu lallenden Deppen, die wie Schoßhündchen hinter Bällen her hecheln. Bei Besuchen von Bekannten und Verwandten krabbelt der hoffnungsvolle Sprößling auf allen Vieren auf mich zu. Es ergeht der Befehl, vor Freude zu strahlen. Die Mütter und Tanten beauftragen mich mit vor Zärtlichkeit tränenden Augen, das Jungtier zu streicheln. Sie quietschen vor dämlicher Liebe, als wäre ihr Scheißer aus purem Gold. Ich bin dann froh, wenn der Ball in die andere Richtung fliegt und der kleine Trottel trottet vergnügt in die Arme der seligen Mama und von jemand Anderem als mir betütelt wird. Das Hündchen springt japsend hoch und rast dem Stöckchen hinterher.

In Schlips und Kragen arbeite ich an meinem Schreibtisch in der Vorstandsetage bei BMW und konzentriere mich auf für unser Wirtschaftswachstum – wichtige Aufgaben. Meinen Sohn werde ich eines Tages in die Arbeit einweisen. Wir werden, korrekt angezogen – schwarzer Anzug und Krawatte – uns gegenseitig ins Gesicht blicken und ich werde wie in einem Spiegel mein eigenes verjüngtes Gesicht sehen. Mein Sohn wird auf seinen Vater stolz sein. Der Vater wird auf seinen Sohn stolz sein. Meine hohe Position wird ihm den Eintritt in die höchsten Kreise der Wirtschaft Gesellschaft erleichtern. Der Erzeuger rät seinem Erzeugten, sein Geld gewinnbringend anzulegen. Die Söhne von Vätern sollten als reife und erwachsene Geschäftsleute, Ärzte, Juristen in gut gebügelten Anzügen mit Aktentaschen aus den Gebärmüttern ans Tageslicht unserer Volkswirtschaft treten. Die goldgerahmten Ahnenbilder der Mutter, die verflossenen Ruhm und Adel wieder heraufbeschwören, ziehen das Kind in die dunklen Träume der Toten. Die vergangenen Jahrhunderte verlieren sich in verstorbene Nächte und verfaulen. Es werde Licht! Das grelle Licht von Autoscheinwerfern, von Polizeischeinwerfern, von alles ausleuchtenden Taschenlampen. Das entlarvende Flutlicht des Verstandes. Die schlagfertige Hand des Vaters legt sich auf die Vorhaut des Sohnes und schneidet die Vorhaut. Das Blut des Nachwuchses soll fließen!

Ich arbeite in der Marketingabteilung von BMW. Ich bringe das Geld ins Haus. Die Großmutter meiner Frau bringt das Geld ins Haus. Sie spendet uns vom Schatz der ruhmreichen Toten. Die Firma schickt mich auf Geschäftsreisen nach Großbritannien und in die USA. Ich treffe Minister und Generaldirektoren.

Auf Drängen meiner Gemahlin habe ich schon mehrmals mein Sperma untersuchen lassen. Immer wieder wurde nachgewiesen, dass mein Samen zeugungsunfähig sei. Das Eheweib wäre mit einem anderen, starken Mann trächtig wie eine brüllende Kuh. Die breitbeinig daliegende Schwangere stößt ein Kalb nach dem Anderen in das stinkende Stroh des Stalles. Ich bin als Vater untauglich. Ich bin kein Mann. Ein Waschlappen. Das Weib benutzt den Kerl zur Zeugung ihrer Kinder. Nach der Arbeit kehre ich gerne in die Geborgenheit eines von der Frau gepflegten Heimes zurück. Natürlich liebt man seine Gattin. Sie wird sich um die Erziehung des Sprosses kümmern. Hätten wir ein Kind aus einem Heim adoptieren sollen? Sie sehnte sich nach einem Gebilde aus eigenem Fleisch und Blut. Die Mutter blickt dem Kinde in die Augen und bewundert ihr eigenes Antlitz im Gesicht ihres Gewächses. Ein Fleisch und Blut. Das Fleisch beider klebt zu einer Einheit zusammen. Ein Fleisch und Blut. Die schwüle Hitze im Kuhstall vergiftet die Luft. Die Klinge eines Messers schneidet das Auge des Kleinen und sperrt es in ewiges Dunkel. Der Arzt hätte dem Muttertier wie einer Kuh im Schlachthof Scheiben Fleisch aus den Schenkeln oder Brüsten schneiden, an seinen Mund führen und mit seinem Hauch beleben sollen. Die Götter in Weiß erschaffen neues Leben. Jeden Tag wird dieser meinen Genen und meinen Körperzellen wildfremde Nachwuchs meine Kraftlosigkeit bezeugen. Die Leute werden hinter meinem Rücken tuscheln – woher die blauen Augen, woher die blonden Haare? Ganz die Mutter. Was hat denn der Junge vom Vater? Der Vater ist ein Fremder. Mit vorgehaltener Hand und hämischem Blick werden sie munkeln, im Bett hat es wohl nicht geklappt. Ich bin sächlich und sachlich. Die Geschlechtslosigkeit von Zahlen und Renditeberechnungen. Vor dem übel riechenden Keuchen von sich aneinander reibenden, schwitzenden Leibern ekelt es mich. Die Nässe des Grases ist eine Ausscheidung. Feuchte Tierzungen schlecken und verseuchen den Menschen mit den Ausdünstungen ihrer Darmflora.

Der Arzt hat meiner Frau den Floh ins Ohr gesetzt, dass sie ihren Eierstock von einem fremden Samen eines Mannes, den sie noch nie gesehen hat, dessen Namen sie nie erfahren wird, in einer Petrischale befruchten lassen soll. Ein Unbekannter, ein sich selbst Fremder wird mein trautes Heim mit der Eiseskälte der Labore gefrieren lassen. Ein Unheimischer. Früher hätte man so jemand für einen Bastard des Teufels gehalten. Die blonde Bestie wird aus dem genetisch erstklassigen Samen eines blau – und blondäugigen SS-Schönlings gezeugt. Zwei tötend stahlblaue Augen werden, wenn die Brut ausgewachsen ist, den Vater, der als Mann versagt hat, zum Tode verurteilen und das Urteil auf der Stelle vollstrecken. Der Spross der Labore wird sich nähren und nähren und seine Riesengestalt wird den Ehemann aus dem Haus drängen. Meine Angetraute wird ihm ihre Brüste reichen. Das Kind wird von eiserner Gesundheit sein und frostig schön sein wie aus einem Katalog für Menschen nachgebauten Robotern ausgesucht. Die Augen der Mutter starren selbstvergessen auf ihren Balg, auf ihr sabberndes, ins Unendliche wachsende Baby. Sie weiß schon gar nichts mehr von meiner Existenz. Lautlos werde ich aus dem Haus schleichen und niemand wird mich vermissen. Auf Nachfragen nach ihrem Gatten wüsste meine Frau nicht wovon die Rede ist. Ihre unschuldig erstaunten Augen. Die schwachsinnige Oma im Ballkleid der Belle Epoque wird blödsinnig grinsend diese Muttergottes mit laborgezüchtetem Heiland aus Kunststoff und Metall mit ihren gichtknotigen Pfoten segnen. Ich werde wieder der ausgehungerte und bettelnde Junge aus den Sudeten. Von der Pike musste ich mich zu meiner heutigen Position hocharbeiten. Die saubere Hand meines Vaters legte sich auf mein Glied. Das aufquellende Blut besprengte das blanke Weiß des Lakens. Nichts hasse ich mehr als Schmerz und Gewalt. Man hält mich für trocken und nüchtern und ich liebe die leblose Stille der reglosen Gegenstände.

Der graubärtige, alte Arzt, der zur Zeugung meines Sohnes beigetragen hat, untersucht im Auftrag der Bundeswehr Soldaten auf ihre Tauglichkeit für die Luftwaffe. Ich erinnere mich an die trostlosen, weiß getünchten Flure in der Kaserne, in der ich mich als Achtzehnjähriger mit anderem, frischem Kanonenfutter splitternackt ausziehen mußte und vor einer an einem Tisch sitzenden Musterungskommission Schlange stehen mußte. Junges, geduldiges Fleisch, das auf seinen Gebrauchswert untersucht wurde. Alte, von Gummihandschuhen überzogene Hände griffen geil an die Eier und Schwänze und Arschritzen der Frischlinge. Der Stabsarzt nahm ein Messer und trennte meine Eichel vom Schaft. Das Nass schwoll an.

Der Arzt meiner Frau hat ihr Zeitschriften und Prospekte über einen schwedischen Gynäkologen besorgt, der mit der künstlichen Befruchtung für eine fortschrittliche Medizin kämpft. Unser Kind ist ein Vorbote einer neuen Zeit. Unser Sohn, meine Frau und ich sind unserer Zeit weit voraus und marschieren an der Spitze des Fortschritts. Der dumpfe Schlamm von Geburt und Tod wird vom Verstand trocken gelegt. Deutschland ist noch zu fromm und provinziell. Eines Tages begegnete ich einer Frau in meinem Alter. Sie ist schlank und hat schulterlanges, blondes Haar. Viele meinen, sie ähnele fatal meiner Frau. In der Mittagspause betrat ich ein Restaurant. Es waren kaum Gäste da. Ich setzte mich an einen freien Tisch. Am Nebentisch saß sie. Ihre selbstbewußte Körperhaltung fiel mir gleich beim Eintreten auf. Sie ergriff ein Bierglas und schnitt ihr Fleisch wie jemand, der einen festen Zugriff auf die Dinge hat. Als ich die Gaststätte betrat, blickte sie mich mit festem Blick an. Wir waren uns sofort sympathisch. Zuerst wich ich der Kraft ihrer Augen aus. Dann zwang ich mich, ihren Blick zu erwidern und arbeitete daran, möglichst unverkrampft zu lächeln. Sie lächelte zurück. Arbeitet sie in der Verwaltung oder in einem Geschäft? Sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Sie weiß sicher Erfolg zu schätzen und strebt nach oben. Ich stellte mir vor, wie sich ihr sanfter Körper danach sehnt. sich in meine Arme zu schmiegen. Die Süße der Liebe. Unsere reinen Leiber werden sich vereinigen und zu einer Einheit verschmelzen. Kein schmutziges Keuchen und Schwitzen wie bei Tieren. In der Kindheit fand ich Schutz am warmen Bauch meiner Mutter und wäre am liebsten in sie wieder hineingekrochen. Niemand wird es wagen, sich zwischen uns zu drängen. Als Berufstätige werden wir keine Zeit haben, Kinder aufzuziehen. Wir zwei werden in einem rosenumrankten Schloss leben und die Welt wird in Rosen versinken.

Das Kind schreit und blutet. Seine Mutter beugt sich über es und beide schließen sich zusammen. Ich bleibe draußen.

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© 2022 Michael Wiedorn
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