Von Marek Födisch
Denn ich höre das Tuscheln der Menge,
Schrecken ist überall,
sie beraten miteinander über mich und planen,
mir das Leben zu nehmen.
Psalm 31, 14
Er schloss die Tür hinter sich, überkreuzte seine Arme an den Handgelenken, warf sie nach oben, lehnte sich keuchend an die Wand des Korridors und atmete durch. Was war geschehen? Ein Reporter einer bekannten Tageszeitung, der an der Haustür auf ihn wartete, um einen Kommentar auf die im Raum stehenden Plagiatsvorwürfe erhaschen zu können, ließ ihn wetternd und rasch ins Treppenhaus verschwinden. Er musste sich, wie so oft, erst einmal wieder fangen, die Tür fiel laut von innen zu. Auf der Kommode, die links neben der Wohnungstür im Flur stand, lagen ein paar Briefe. Er, Pessach, Endvierziger, ein mit Preisen versehener Dichter und Übersetzer, blendete seit Tagen die Lebenszeichen der Anschreibenden aus, und dennoch erhob er sich mühelos von seinem Schreibtischstuhl oder vom alten Kanapee, wenn es ohne Voranmeldung bei ihm klingelte. Pessach war bekannt dafür, sich auf sein Gegenüber wirklich einlassen zu können – in geradezu ungewöhnlicher Überaufmerksamkeit, die mit einer selbstlosen Weise individuellen Entgegenkommens verflochten war. Und nicht selten verließen Gäste mit einem geschenkten Buch sein geschütztes Refugium. Nur ergab sich daraus das Problem, dass er derartiges Verhalten auch von der jeweils anderen Seite, bewusst oder unbewusst, erwünschte. Somit war Pessach einer regelmäßigen Verletztheit ausgesetzt, in welche er sich letztlich selber hineinwarf, sie sogar, je nach Situation, vermeintlich, oder mit Vorsatz, konstruierte, um das eigene Atmen, vom Dschungel weitverzweigter Komplikationen umgeben, keiner denkbaren Rechtfertigung ausliefern zu müssen. Er bekannte beispielsweise gegenüber Freunden, dass er nur das, was Wunde ist, überhaupt wahrnehmen kann. In diesem psychischen Geflecht sah er sich, wechselweise, blühen und vergehen, wobei letzteres dominierte. Und da, aufgrund jener Hochsensibilität, spontane Gesten und freie Äußerungen seitens der anwesenden Gesprächspartner immer das Potenzial in sich trugen, von ihm missverstanden und, in Folge davon, zeitweilig oder gar für immer, abgelehnt beziehungsweise ignoriert zu werden, machte sich im Vorfeld eines jeweiligen Besuches eine gewisse Dissonanz, wenn auch der Vorfreude kräftemäßig längst nicht gewachsen, bemerkbar, die manch einen, selbst schon vorm Hause stehend, zur Umkehr zwang.
Kaum in der Küche angekommen, schreckte er kurz auf, da ein Gummiball gegen das Fensterglas schlug, ohne es jedoch beschädigt zu haben. Einzig ein winziger Abdruck aus feuchter Hoferde blieb daran haften. Die folgenden Sekunden und Minuten sammelten sich abrupt zu Erinnerungen, die ihn in seine Kindheit entrückten: das Kaminfeuer, vor welchem Grimms Märchen und alle möglichen Volkserzählungen in offene Ohren und Herzen einzogen – oder: die jiddischen Lieder, die in fröhlicher Runde, mit Melancholie benetzt, erklangen. Besonders die Geschichte eines Jünglings hinterließ Spuren in seiner Seele. Dessen Vater musste, wie die meisten Väter der heimatlichen Umgebung, Frondienst für einen mächtigen Kaiser leisten, der genau darin bestand, die Donau umzuleiten. Als er von zu Hause abzog ins nahe Ungewisse, hinterließ er seine schwangere Frau, die sorgenvoll ihrem Gatten nachsah. Sechzehn Jahre vergingen, bis der Sohn sich endlich aufmachen durfte, seinen Vater zu suchen. Als nun der Junge nach zehrenden Tagen vor jenen ihm unbekannten Mann stand und seine Herkunft sofort preisgab, geriet dieser plötzlich in heftige Gefühlswallungen und erschlug sein Kind, da er fürchtete, es müsse ebenso viele Jahre wie ein Sklave schuften und daran vielleicht zugrunde gehen. Pessach hielt weiter inne, es war ein sonniger Nachmittag, doch ihm war nicht danach, auf die Straße zu gehen. Wie er nun seine fortsetzenden Gedanken hinter der Stirn weiden ließ, traten seine Eltern und Cousinen aus dem Äther hervor, so, als säßen sie jetzt tatsächlich mit am Küchentisch, mental herbeigerufen in die Großstadt, wo ihr Sohn als Exilant vor Jahren ankam, wenn auch nur den behördlichen Eintragungen nach. Denn, richtig angekommen ist er nirgends, und seit ein paar Monaten schon hatte er sich, intensiver und häufiger als zuvor, des Fremdseins absolut gewiss, zurückgezogen, und die auszufüllende Zeit verortete sich größtenteils in der neuen Wohnung, in die er, nach der räumlichen Trennung von seiner Frau, einzog. Hin und wieder kam sein Sohn zu Besuch, hin und wieder musste er sich mit Klinikaufenthalten, seiner schweren Depressionen und der Verfolgungsängste wegen, mehr oder minder arrangieren.
Im Gegensatz zu der Geschichte aus Kindertagen, musste sein Vater nicht nur einem zum Gott verherrlichten Führer und seinen Vasallen durch Zwangsarbeit dienen, schlimmer: Er sah sich und seine Frau, die übrigens auch zur Arbeit gezwungen wurde, die in alle Winde verstreute Verwandtschaft, Freunde und ganze Bevölkerungsgruppen umso mehr einer blanken und entsetzlichen Überlebensnot gegenüberstehen, die über das aufgeklärte Europa hereinbrach, wo im Chor aus Schalmeien, Fahnenmeeren, Panzern, Kampffliegern, Maschinengewehren und Jubelarien, einer fanatischen Ersatzreligion gleich, der Abgesang an alle Menschlichkeit heroisch von den Nazis beschworen wurde. Pessach´s Eltern dienten sozusagen vorrangig, stellvertretend für eine Unzahl armer Geschöpfe, dem von ganz oben gründlich eingeforderten, bürokratisierten und herzlos zu erbringenden Nachweis, millionenfaches Leben vernichtet zu haben. Die Todesengel, agierend in den Behörden, Kasernen, Gefängnissen, auf Polizeiwachen und Rampen, in Konzentrationslagern, wo der bestellte Tod allgegenwärtig triumphierte, wurden letzten Endes mit konfiszierten Geld besoldet, mit eisernen Kreuzen behangen, mit den üblichen Ehrbekundungen überhäuft. Und, das ist das eigentlich Unbegreifliche, sie sind auf ganz und gar legalem Weg an die Macht gekommen.
Pessach plagten Gewissensbisse, seine Eltern in Stich gelassen zu haben, wissend, dass auch ihnen kein Grab vergönnt war. Das Studium der Medizin als auch das der Romanistik brach er, den Umständen geschuldet, ab. Dafür bahnten sich eingebrannte Bilder, in Verse geschmiedet, Wege in sein widerstreitendes Ich, die in ihrer jeweiligen, auf den ersten Blick, oder dem ersten Klang nach, nicht immer gleich verständlichen Aussage als schützende Überhaut für Erlittenes angenommen wurde; archaische Wortschöpfungen wie fastnachtsäugige Brut oder: Feuerumsonnte, die, dialogisch eingesetzt, bestenfalls ein Mittel waren, um seine Verzweiflung, die dem Kriegstrauma erwuchs, wenn überhaupt, kanalisieren und vor allem mitteilen zu können. Denn was nützt Poesie ohne Begegnung? Natürlich befand er sich damit auf bekanntem Terrain, da er von klein auf Gedichte und alte Weisen liebte, im Dichten selbst den ureigenen (wenn auch inspirierten) Ausdruck subjektiver Welt-Widerspiegelung sah und empfand, obgleich aber die reifenden Intentionen und unbewussten Motive, der persönlichen Krise gemäß, aktuell und seit langem völlig andere waren. Gewendet sei die Not zum heilsamen Ton hin, surrte es mitunter scheu im Kopf, sobald die kostbar gewordene Stille in ihm heiligen Raum einnahm. Für ihn jedenfalls waren die entstandenen Gedichte eigentlich offen, und nicht hermetisch.
Von draußen drangen blaue Lichtblitze für einen Moment durch die Lamellen des abgedunkelten Arbeitszimmers. Polizeiwagen, brennende Barrikaden, Banner, wütende, laut proklamierte Forderungen, Verhaftungen und abwehrende Schreie, die im Zuge zahlreicher Demonstrationen an der Tagesordnung waren, blieben vom großen Balkon aus beobachtbar. Pessach mischte sich, in Abständen, in die Menge der Demonstrierenden. Er wusste nur zu gut, für was es einzustehen galt: Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit. Wie steht es überhaupt um Deutschland, fragte er sich oft, eingedenk dieser Schlagworte. Primär ging es Pessach hierbei um das westliche Nachkriegsdeutschland. Eine ehrliche Aufarbeitung der Verbrechen während des Dritten Reiches fand dort nicht wirklich statt, allenfalls rudimentär, wurde ihm mit der Zeit klar, gerade angesichts der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages. Eine der wenigen Ausnahmen bildete sicher das Bemühen Fritz Bauers. Und von staatskommunistischen Ideen, wie er sie in ihren zum Teil drastischen Umsetzungen in Rumänien erlebt hatte, wollte er nichts mehr wissen, da diese ja die eigentliche Fluchtursache ausmachten. Jedenfalls stand es zweifelsfrei im Raum: Die Mörder und Peiniger leben unter uns, die hörig eifernden Volksgenossen, die das blutige Feld bereiteten, ebenso. Da Pessach aber vom Verkauf seiner Gedichtbände abhängig war, reiste er regelmäßig nach Deutschland, in die Bundesrepublik, um Lesungen zu halten. Der Geist der Gefolgschaft ließ sich auf die Schnelle nicht, oder nur sehr schwer, aus den Gesichtern ablesen, konsternierte er missmutig, wenn er durch eine wieder zum Leben erwachte Fußgängerzone ging, sich wartend am Bahnsteig einer beliebigen Stadt aufhielt oder in einem Restaurant zu Mittag aß. In ihm pulsierte die Erkenntnis: Hier bin ich nicht sicher, überall ist man nicht sicher. Hitler ist nicht tot, da sein Denken nicht tot ist. Und Kreuze können, zu jeder Zeit, zu Haken geschlagen werden. Ein Beleg dafür leistete auch folgendes Szenario: Pessach bemerkte, nach draußen blickend, dass zwei Männer, die auf der anderen Straßenseite standen, unentwegt zu seinem Fenster hinauf starrten. Er fühlte sich unmittelbar in Angst versetzt. Ob es ehemalige Aufseher waren, die jetzt zu ihm aufsahen, gar etwas im Schilde führten? Etwa einem Plan nachgingen? Es sollte sich tatsächlich bewahrheiten: Ein befreundeter Schriftsteller war zur Stelle, gab sich den auffälligen Herren als Beamter aus, mit der Forderung, sich auszuweisen. Nach erfolgter Notiz stellte sich im Laufe der Recherche heraus, dass es sich wirklich um zwei ehemalige KZ-Aufseher handelte. Dass auch Zusammenkünfte mit Literaten, Denkern, Kritikern und anderen Kulturbeflissenen durchaus eine weitere Bedrohung für ihn darstellen konnten, zeigte sich bei einem berüchtigten Treffen der Gruppe 47, als jemand, Bezug nehmend auf Pessach´s pathetischen Vortragsstil, meinte, dieser erinnere ihn stark an Goebbels. Diese Konfrontation, einem unsagbar vernichtenden Steinwurf gleich, erzeugte natürlich zwangsweise konzentrische Kreise, wie das Beispiel von Tübingen zeigte. Als die Hölderlin-Gesellschaft anlässlich des 200. Geburtstages des Dichters tagte, trieb dieser verfluchte Name wieder in sein enormes Gedächtnis, da diese erlesene Gesellschaft zeitweise sogar unter der Schirmherrschaft von Goebbels stand, was ein offenes Geheimnis war. Pessach sah sich also dem Paradox ausgesetzt: die Liebe zur deutschen Sprache, die ebenso aber von den Henkern in den Mund genommen wurde und wird, so dass sich der Eindruck, der unbestechliche Geschmack in ihm verfestigte beziehungsweise bildete, Honig und Asche zeitgleich verwerten und, zumindest indirekt, verantworten zu müssen. Ein späterer Israel-Aufenthalt, der die Jahre zuvor immer wieder seinerseits verschoben wurde, gewährte Pessach leider nur ein punktuelles Aufatmen. In Gesprächen trat nämlich des Öfteren das Unverständnis darüber zutage, dass er doch weiterhin, oder überhaupt, deutschsprachige Lyrik verfassen würde.
Zwei Jahre später hatte sich eine tiefere Stille als üblich auf sein fahler werdendes Gesicht gelegt, so, als wäre eine Rechnung mit einem Mal unverhofft aufgegangen, so, als läge damit keine Last mehr in den Schalen seiner Abwägungen. Quasi eine entleerte, negierende Balance? Befreundete meinten später, es handelte sich um eine im Nachhinein trügerische Milde, die von außen so nicht immer ablesbar gewesen sei. Auffällig waren jedoch sein nach vorn gebeugter Oberkörper beim Gehen, das schütter gewordene Haar, obwohl oft nur eine relativ kurze Zeitspanne von maximal ein bis zwei Jahren zwischen Abschied und Wiedersehen lag, wie auf Nachfrage Dritter angegeben wurde.
Es war stockfinster über den Lichtern der Stadt, und kein Stern durchstach die mantelartige Wolkendecke. Pessach stand am Fenster, schaute klar und illusionslos in die Schwärze hinein, griff nach einer Zigarette, die auf dem aufgeräumten Schreibtisch lag, ließ aufkommende Zweifel mit gebündelter Konzentration in der Glut vergehen, zog sich anschließend seinen Sakko über und war im Begriff, ins Mitternachtsblau zu entschwinden. Er ging kreuz und quer durch die nächtliche Stadt, die Trottoirs auf und ab, bis es rötlich zu dämmern anfing. Aprilluft zog, vom Duft der Hyazinthen durchmischt, durch das gerettete Grün, welches mit der Zeit von Schnellstraßen und weiteren Großbaustellen bedroht schien. Aus der Ferne stachen knatternde Motoren alter Mopeds in die Gehörgänge der wenigen Passanten. Pessach erinnerte sich sogleich an eine Lesung in Stuttgart, wo ein Zuhörer urplötzlich aufstand, nach draußen ging und sein Zweirad, einem Protest gleich, minutenlang aufheulen ließ. An der Pont Mirabeau, vom Rest der Welt innerlich abgeschirmt, im Glauben, dass noch Lieder, jenseits der Menschen, zu singen sind, fern jeglicher Erinnerung, die als solche nur eine umgekehrte Hoffnung sei, wie Flaubert schrieb, verlor er sich im Strom, von der Niemandsrose prophezeit.
Man fand ihn erst Tage später, nordwärts getrieben.
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© 2022 Marek Födisch
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Foto: Paul Celan im Alter von 18 Jahren (Passfoto, 1938) / Quelle: WIKIPEDIA / Dieses Bild ist gemeinfrei, da sein Urheberrecht abgelaufen ist und der Autor anonym ist.