Rauschen im Kopf

Von Johannes Morschl

Rauschen im Kopf. Denke an die Liebesbeziehung der 1926 in Klagenfurt geborenen Ingeborg Bachmann mit dem 1920 in Czernowitz geborenen Paul Celan (eigentlich Paul Antschel, aus dem rumänisierten Ancel bildete er das Anagramm Celan). Sie kam aus einer Nazi-Familie – ihr Vater war schon vor Hitlers Einmarsch in Österreich im März 1938 Mitglied der damals noch illegalen NSDAP Österreichs (Mitgliedschaft seit 1932), bereute dies aber nach 1945, konnte jedoch nicht darüber reden -, und er ein Jude aus Czernowitz, der ehemaligen Hauptstadt der zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden Bukowina. Die Hälfte der Einwohner von Czernowitz waren Juden. Eine der Hauptsprachen in Czernowitz war Jiddisch. (In Paul Celans Elternhaus wurde aber nur Hochdeutsch gesprochen). Nach dem 1. Weltkrieg gehörte Czernowitz zu Groß-Rumänien, 1940 – 41 vorübergehend zur Sowjetunion, 1941 – 44 wieder zu Rumänien, dann wieder zur Sowjetunion, und seit 1991 gehört es zur Ukraine (heutiger Name von Czernowitz ist Tscherniwizi).

Unter der Diktatur von Ion Antonescu verbündete sich Groß-Rumänien mit Nazi-Deutschland. Antisemitismus wurde zur Staatsdoktrin. Synagogen wurden zerstört, jüdisches Eigentum wurde beschlagnahmt. Ab Juli 1941 wurden Juden, Sinti und Roma in Zwangsarbeitslager deportiert, die Todeslager waren. Nur wenige der Deportierten überlebten. Die meisten wurden erschossen, verhungerten oder starben an Krankheiten. Pauls Mutter, von ihm innigst geliebt, wurde in einem Lager erschossen, weil sie zu geschwächt war, um die schwere Zwangsarbeit machen zu können. Sein Vater starb wie viele andere Häftlinge in einem Lager an Typhus. Die erkrankten Häftlinge durften nicht ärztlich behandelt werden und keine Medikamente bekommen.

An dem Tag, als seine Eltern abgeholt wurden, war Paul nicht zu Hause. Es blieb ihm ein lebenslanges Schuldgefühl, weil er damals nicht bei ihnen war. Er selbst war in einigen rumänischen Lagern und wurde in letzter Minute durch den Einmarsch der Roten Armee befreit. Da er in einem stalinistisch dominierten Rumänien keine Möglichkeit sah, sich frei entfalten zu können, und außerdem wegen früherer öffentlich geäußerter Sympathien für Stalins Erzfeind Leo Trotzki in Gefahr stand, verhaftet zu werden, floh er Ende 1947 von Bukarest, wo er ein unterbrochenes Romanistik-Studium fortgesetzt hat, über Budapest nach Wien. In Wien gab er gemeinsam mit dem dort lebenden deutsch-französischen surrealistischen Maler Edgar Jené ein Buch heraus, das aber keine Resonanz fand. In Wien traf er auch das erste Mal mit der als Autorin noch nahezu unbekannten Ingeborg Bachmann zusammen, die damals eine Liaison mit dem um 18 Jahre älteren Theaterkritiker Hans Weigel hatte, der sie förderte. In Wien begann die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, es war im Mai und Juni 1948, die später immer wieder aufflammte und bis Ende der 50er-Jahre dauerte. Er blieb aber nicht lange in Wien und zog weiter nach Paris, wo er die Grafikerin Gisèle Lestrange (eigentlich Gisèle de l’Estrange, sie stammte aus französischem Adel) kennenlernte und 1952 heiratete. Mit ihr hatte er einen Sohn namens Eric, 1955 geboren. Ein erstes Kind der beiden namens François ist 1953 kurz nach der Geburt gestorben. (Dies erinnert mich schmerzlichst an den Tod meines ebenfalls kurz nach der Geburt gestorbenen Enkelsohns Bela, dem Kind meiner Tochter und ihres Lebenspartners. Das war erst vor einem Jahr. Er starb an einem äußerst selten vorkommenden Gen-Defekt).

Ingeborg Bachmann, alkohol- und tablettenabhängig geworden (Barbiturate), zudem Kettenraucherin – bevorzugte Marke Gauloises -, starb am 17. Oktober 1973 in einem Krankenhaus in Rom in Folge eines Brandes in ihrer Wohnung, der vermutlich durch eine noch glühende Zigarette, die ihr entglitten war, als sie einschlief, ausgelöst wurde. Sie starb aber nicht an den Brandwunden, sondern an den Entzugserscheinungen von den Barbituraten. Die sie im Krankenhaus behandelnden Ärzte hatten ihre körperliche Abhängigkeit von Barbituraten zu spät erkannt. Ihr Begräbnis fand am 25. Oktober 1973 auf dem Friedhof Annabichl in Klagenfurt statt.

Über drei Jahre vorher, in der Nacht vom 18. zum 19. April 1970 hat sich Paul Celan in Paris von einer Brücke in die Seine gestürzt. Es gab keine Augenzeugen, es war aber höchstwahrscheinlich vom Pont Mirabeau, in dessen Nähe er eine kleine Wohnung hatte. In den Jahren davor war er wegen Wahnanfällen mehrmals für längere Zeit in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden. Einmal bedrohte er seine Frau Gisèle mit einem Messer, und einmal wollte er sich selbst mit einem Messer durch einen Stich ins Herz töten, stach aber knapp daneben. Seit November 1967 lebte er von Gisèle getrennt, blieb aber weiterhin mit ihr verbunden. Jean Daive, ein Pariser Freund von Gisèle und Paul, schrieb: „Sein letzter Anruf: finstere, zerrissene Grabesstimme. Sie zittert buchstäblich, und Entsetzen packt mich.“ (1) „Am Montagmorgen, den 20. April 1970, Gisèle am Telefon: ‚Jean, hast du Paul am Sonntag gesehen? Nein? Ich bin beunruhigt. Ich habe keine Nachricht von ihm. Paul ist verschwunden.’“ (2) Tage später: „Gisèle: ‚Jean, Pauls Leiche wurde aus der Seine gefischt. An der letzten Schleuse.’“ (3) Paul Celans Leiche wurde 10 Kilometer stromabwärts getrieben und am 1. Mai 1970 gefunden. Sein Begräbnis fand am 12. Mai 1970 auf dem Cimetiere parisien de Thiais im an Paris angrenzenden Département Val de Marne statt.

Am selben Tag von Celans Begräbnis starb die 1891 geborene deutsch-jüdische Dichterin Nelly Sachs – 1966 Literatur-Nobelpreis (gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon) – in Stockholm, wohin sie 1940 in letzter Minute aus Nazi-Deutschland (Berlin) entkommen war. Der Termin für ihre Deportation in ein KZ stand bereits fest. Sie war mit Paul Celan freundschaftlich verbunden. Sie waren Schicksals- und Seelenverwandte, zwei Überlebende, zwei Traumatisierte. Das Trauma von Nelly Sachs äußerte sich in paranoiden Ängsten, das von Paul Celan in Depressions- und Wahnanfällen. Beide gaben den in den Vernichtungslagern Ermordeten eine Stimme, er in seinem bekanntesten Gedicht Todesfuge, sie unter anderem in ihrem Gedicht Chor der Toten. Sie schrieben einander Briefe, sie besuchte ihn in Paris und er sie in Stockholm. Vermutlich war sein Tod mit auslösend für ihren Tod. Sie war eine sehr empfindsame Frau mit einem Hang zu religiöser Mystik. In Westdeutschland hat man sie lange Zeit ignoriert. Die ersten Veröffentlichungen von Gedichten von ihr im Nachkriegsdeutschland erfolgten in Ost-Berlin (auf Betreiben von Johannes R. Becher).

Sehe Ingeborg Bachmann und Paul Celan wieder zusammen, jedenfalls im Jenseits meiner Fantasie. Ob Ingeborg Bachmann dagegen protestieren würde? Ob sie lieber mit dem 1911 in Zürich geborenen Schriftsteller Max Frisch im Jenseits meiner Fantasie zusammen wäre, mit dem sie eine längere Liebesbeziehung hatte und von 1960 bis 62 in Rom zusammenlebte, der sie aber wegen einer jungen Studentin verließ? Oder mit dem 1923 in Wien geborenen, aus einer Rabbiner-Familie stammenden Religionsphilosophen Jacob Taubes, nach dessen Aussage seine Liebesbeziehung mit ihr durch Himmeln und Höllen gegangen ist? Nein, nein, schließlich handelt es sich hier um meine Fantasie, und da bleiben Max Frisch und Jacob Taubes, die ich beide durchaus schätze, bitteschön draußen. Ich hänge ganz einfach vermutlich aus einer romantischen Sentimentalität heraus an der Liebesgeschichte von Ingeborg Bachmann und Paul Celan, mit dessen „sprachvergitterten“, sich der mit den Tätern gemeinsam veratmeten Sprache entziehenden Gedichten ich mich derzeit wieder einmal beschäftige.

Im Panoptikum meiner Fantasie tauchen noch andere auf, etwa der wilde Vaganten-Dichter François Villon, über dessen Leben man nicht viel weiß, dann ein großer Zeitsprung, Georg Trakl, dessen Gedichte mich als Gymnasiast wie ein Blitz getroffen hatten und mich zu ersten eigenen Gedichten anregten. Leider oder zum Glück habe ich sie nicht mehr, erinnere mich nur noch an das Ende eines dieser Gedichte: Zersplittern Räume, verweht es Zeiten. Und selbstverständlich taucht auch Franz Kafka auf. Ich war schon immer ein Käfer, ein rebellischer Käfer, der sich vor den bohrenden Blicken seiner Eltern in sich selbst zu verkriechen versuchte. Gleichwohl wurde ich aber immer von ihnen unterstützt, wenn ich kein Geld mehr hatte, was bei mir keine Seltenheit war. Und Karl Kraus taucht auf, der zum Glück nicht mehr lesen kann, was ich schreibe, aber wer weiß, vielleicht hätte er mich bloß ignoriert. Sein Opus Magnum Die letzten Tage der Menschheit, und dann noch dazu von Helmut Qualtinger gelesen! Ein bissiger Spiegel der gesellschaftlichen und sprachlichen Totalverblödung während des 1. Weltkriegs, – „Serbien muss sterbien!“, lautete da eine Parole -, eine Abrechnung mit dem Hurra-Patriotismus, mit den Hetzartikeln und der Kriegsberichterstattung der Presse, mit kriegslüsternen Heimatdichtern, vertrottelten Adeligen, Geschäftemachern mit dem Krieg, usw.

Später, als Hitler in Deutschland an die Macht kam, hat Karl Kraus in seinem 1933 verfassten Buch Die dritte Walpurgisnacht (es wurde erst 1952 gedruckt) den berühmt gewordenen ersten Satz geschrieben: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ Weiter schrieb er zu Beginn des Buches: „Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre, mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin, so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluß über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache.“ (4) Dabei hat er nur den Anfang des Hitler-Regimes erlebt. Er starb 1936, zwei Jahre vor Hitlers Einmarsch in Österreich mit den damit gleichzeitig einhergehenden Ausschreitungen eines antisemitischen österreichischen Mobs gegen die österreichischen Juden, die das mörderische Vorspiel zu dem noch viel Schlimmeren waren, das danach folgte.

Spüre ein Stechen im oberen Bereich meiner linken Schläfe. Ertappe mich dabei, endlich für immer verschwinden zu wollen. Es scheint mir, dass sich dieser Wunsch zu somatisieren beginnt. In nicht allzu weiter Ferne wütet eine von Wladimir Putin losgelassene russische Armee in der Ukraine, was schlimmstenfalls zu einem 3. Weltkrieg mit dem Einsatz von Atomwaffen führen kann. Von russischer Seite her wird offen mit so einem Einsatz gedroht. Die Städte des einstigen Brudervolks werden bombardiert und unter Raketenbeschuss genommen. Millionen Menschen sind innerhalb der Ukraine auf der Flucht oder aus der Ukraine geflohen, und es werden mit jedem Tag mehr. Dass sich bei Putin etwas verändert hat, konnte man schon vorher an dem absurd langen Tisch merken, wo er an einem Ende saß, und meterweit ihm gegenüber seine Generäle oder Staatsbesucher sitzen mussten. Stauffenberg-Syndrom? Einer der Generäle oder ein Staatsbesucher hätte eine Bombe bei sich haben können? Oder schlicht ein Zeichen von Größenwahn? Oder beides, Größenwahn gepaart mit Stauffenberg-Syndrom?

Aber andererseits war von Putin nichts anderes zu erwarten. Man denke an die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 und an die Unterstützung pro-russischer Separatisten im ost-ukrainischen Donbas mit der Ausrufung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Putins Krieg gegen die Ukraine hat schon 2014 begonnen. Nur hat er noch nicht solche Ausmaße wie jetzt gehabt und ist uns noch nicht so spürbar bedrohlich nahe gekommen wie jetzt.

Rauschen im Kopf. Paul Celan guckt mich mit leicht skeptischem Blick aus den Augenwinkeln vom Cover der Celan-Biographie von John Felstiner an. „Hätte dich gerne kennengelernt“, murmle ich etwas verlegen zu Celan. Da erscheint mir auf einmal Ingeborg Bachmann, schelmisch lächelnd und mit dem obligaten Glimmstengel zwischen den Fingern. Will sie etwas zu ihrer Liebesgeschichte mit Paul Celan fragen, ob sich ihre ersten Liebesszenen in den Wiener Donau-Auen abgespielt haben, wie Ina Hartwig in ihrer wunderbaren Ingeborg Bachmann-Biographie vermutete. (5) Doch da verschwindet sie wieder. Nur ein leichter Zigarettenrauchnebel hängt noch in meinem Zimmer. Riecht eindeutig nach einer Gauloise. Den Geruch kenne ich, da ich bei meinen früheren Aufenthalten in Frankreich auch Gauloises geraucht habe.

Werde traurig, es ist eine unbestimmte Trauer, die schon seit Langem in mir haust. Der Krieg in der Ukraine weckt in mir Erinnerungen an den ungarischen Volksaufstand im Oktober 1956, der von in Ungarn einrückenden russischen Panzerverbänden niedergeschlagen wurde. Mein Vater ist in Ungarn geboren. Die Familie seiner älteren Schwester, meiner Tante Liska lebte in Ungarn. Mein Vater hörte damals jeden Tag die Radio-Berichte über Ungarn und weinte manchmal dabei. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Der mittlere der drei Söhne von Tante Liska, mein Cousin Gyula floh nach Österreich und wohnte eine Zeit lang bei uns in Wien. Dann wanderte er nach Kanada aus. Ich war damals 9 Jahre alt.

Bin selbst ein doppelt Emigrierter, Anfang der 1970er-Jahre von Wien nach Westberlin emigriert, allerdings ohne Not und Zwang, und in letzter Zeit auch zunehmend innere Emigration, Abkapselung von der Welt, nahezu ein Einsiedlerdasein.

Berlin, 23.03.2022

1) Jean Daive, Unter der Kuppel – Erinnerungen an Paul Celan, Urs Engeler Editor Basel / Weil am Rhein 2009, S. 21
2) ebenda, S. 21
3) ebenda, S. 22
4) Karl Kraus, Die Dritte Walpurgisnacht, Kösel-Verlag München 1967, S. 9
5) Ina Hartwig, Wer war Ingeborg Bachmann? – Eine Biographie in Bruchstücken, S. Fischer-Verlag Frankfurt am Main 2017, S. 36

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