Rotkäppchen 2.0

Von Hans Peter Flückiger

Ein neuer Tag erwacht auf dem Mond. Im Süden guckt die Erde schon mehr als zur Hälfte über die Gebirgskette des Monts Teneriffe. Im davorliegenden Krater wird ein Zelt geöffnet. Ein Mädchen mit einer roten Kappe kriecht raus. Eine Frau folgt nach. Es ist die Mutter. „Komm, mach dich bereit“, sagt diese, „du musst jetzt los, wenn du rechtzeitig bei Oma ankommen willst. Immerhin sind es mehr als 350‘000 Kilometer.“ „Mach dir nur keine Sorge Mama“, antwortet das Mädchen, klemmt den Korb mit dem Kuchen und Wein auf den Gepäckträger seines Fahrrades und gibt Mama links und rechts einen Abschiedskuss auf die Wangen. Dann gehts los. Rotkäppchen schwingt sich aufs Rad und tritt kräftig in die Pedale. Es geht nicht lange, sieht man das Mädchen im Weltall verschwinden. Mama schaut ihm nach, winkt, und ruft mahnend: „Gib acht, dass du dich bei der Landung nicht im Geäst der Bäume verhedderst“, und nach einem Atemzug, „und gell, bei der Wegkreuzung musst du dich dann rechts halten.“ Rotkäppchen schaut zurück, winkt, lacht und ruft: „Klar Mama, nur keine Sorgen, ich geh‘ ja nicht das erste Mal zu Oma.“

Alles klappt. Sanft schwebt Rotkäppchen über die Bäume, sieht die Wegkreuzung, und landet. Sie nimmt den Korb vom Gepäckträger, kettet das Fahrrad an die Strassenlaterne und bummelt los. Beschwingt geht es durch Feld und Wald. Die Bienen summen, und wie die Blumen duften. Bambi das Rehkitz steht am Waldrand, ruft: „Hallo Rotkäppchen, lange nicht gesehen“, und Hase Lampe wackelt zum Gruss mit den Ohren. Rotkäppchen könnte die ganze Welt umarmen. Fröhlich trällert es vor sich hin. „Wer hat Angst vom bösen Wolf, bösen Wolf, bösen Wolf, wer hat …?“

Bald tritt es aus dem Wald. Hurra, da ist der Turm, in dem Oma wohnt. Es stellt den Korb ab, formt mit beiden Händen einen Trichter vor dem Mund und ruft: „Ooooooma, lass dein Haar hernieder – ich bin’s, Rotkäppchen.“

Rauschend fallen zu einem Zopf gebundene Haare aus dem obersten Turmzimmer. Behände hangelt sich Rotkäppchen hoch. Was ist denn da los. Statt in Omas freundlich lachendes Runzelgesicht guckt es in einen schwarzen Schlund, aus dem der Haarstrang quillt. Igitt, was ist denn da los? Sind diese gelbbraugrauen Spitzen Zähne? Und dieses rotbraune lange Ding da sieht aus wie eine Zunge. Und erst dieser bestialische Gestank …

„Wääääh…“ eisig fährt Rotkäppchen der Schauder über den Rücken. Tatsächlich, sie schaut direkt in die grosse Fresse des Wolfes, der Oma gefressen hat.

Zorn packt Rotkäppchen. „Warte nur, du Ungetüm“, schreit es. Dumpf verhallt das Echo in der Mundhöhle. „… Ungetüm, …getüm, …tüm.“ Rotkäppchen fasst nach den Eckzähnen des Wolfes und zieht sich in das Maul der Bestie. Es steht auf und presst mit aller Kraft mit seinen beiden Händen gegen den Oberkiefer der geifernden und röchelnden Bestie.

„Oi, oi, oi“, ächzt Rotkäppchen. „Jetzt nur nicht schlapp machen“, spricht es sich Mut zu. „Bist du da unten, Oma“, ruft es in den Rachen. Der Haarstrang bewegt sich. Oma scheint im Bauch des Wolfes zu nicken. Dass Oma noch am Leben ist, gibt Rotkäppchen neue Kraft. Grimmig hebt Rotkäppchen ein Bein und tritt gegen das Halszäpfchen der Bestie. Ein, zwei, drei Mal, tret, tret, tret, immer wieder.

Würg, ächz, stöhn, röchel … Prustend fällt der Wolf zu Boden, windet sich vor lauter Schmerz. Rotkäppchen fällt aus dem Maul – und auch Oma kommt gekrochen. Glücklich fallen sich die Beiden in die Arme. „Du liebes Rotkäppchen“, schluchzt Oma. „Du liebe Oma“, lacht Rotkäppchen.

Japs, japs! Nach Luft schnappend, erholt sich der Wolf von der Strapaze. Grimmig blickend duckt er sich nieder, und grrrrrrr, springt er auf Oma und Rotkäppchen los. Geistesgegenwärtig bücken sie sich. „Neeeein“, schreit der Wolf in Todesangst. Zu spät. Die Wucht seiner Wut katapultiert ihn durch das Turmfenster. Durch Mark und Bein geht Oma und Rotkäppchen der immer leise werdende Hilferuf. Dann – ein Plopp und ein letztes Jaulen. Oma und Rotkäppchen schauen aus dem Fenster. Erste Geier lassen sich auf den Bäumen neben dem Turm nieder.

Müde vom Abenteuer fällt Rotkäppchen ins Bett. Durch das Fenster guckt der Mond. „Gute Nacht Mama“, sagt es und schläft ein.

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© 2022 Hans Peter Flückiger
Alle Rechte vorbehalten

Die Geschichte zur Geschichte:
Die Geschichte entstand im Kunstmuseum Solothurn (Schweiz) im Rahmen des Projekts Kunst und Schreiben zur Ausstellung Meret Oppenheim, Arbeiten auf Papier (Dauer 23.10.21 bis 27.02.22.) Die Aufgabe bestand darin, zu einem der ausgestellten Werke ein Märchen zu schreiben, in dem die Begriffe Mond, Weltall, Baumgeäst, Wegkreuzung, über den Bäumen, Turm und Zelt zu integrieren sind. Ich wählte die Zeichnung Rotkäppchen und der Wolf, 1961

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