Von Monika Jarju
Im Zug eine Gruppe von Kindern, die ich hören, aber nicht sehen kann. „Meiner ist hellblau, meiner pink“, rufen sie. „Ich sehe etwas, was du nicht siehst und das ist orange“, höre ich eine Frauenstimme sagen.
Im Abteil eine Familie, abwechselnd legen sie die Handflächen übereinander, ziehen sie abrupt weg und klatschen sie obenauf. Der Junge strahlt, außer Rand und Band geraten, schlägt er seine Handflächen gegen den Körper der Mutter. Klatschen, Patschen, bis auch der Vater den Jungen kaum noch bändigen kann und das Spiel abbricht.
Herbstlandschaft vor dem Fenster, goldbraun leuchtend, lichtes Grün, Wiesen, Gartenwege, Zäune, da werde ich aus meinem Schauen herausgerissen.
„Stell dir vor, einer baut eine Atombombe“, sagt der Junge und ich bemerke, wie verwundert das Mädchen den Jungen ansieht. Die Kinder lachen in der Spiegelung der Scheibe.
„Im Internet habe ich gelesen, wie man eine Atombombe baut“, erzählt der Junge. „Stell dir vor, die Atombombe geht los, dann sind die Häuser kaputt und das halbe Baumhaus,“ sagt er mit vor Faszination geweiteten Augen.
Mir stockt der Atem. Keines der Kinder kennt den Krieg, auch ich nicht. Beim Halt in Rummelsburg erscheint mir vor dem Zugfenster das Wohnzimmerfenster, an dem ich als Kind stand und auf die Straße, auf die einbeinigen Männer an Krücken schaute, auf die düstere Fassade gegenüber, die Einschüsse, den Trümmerplatz an der Ecke.
„Stell dir vor“, redet der Junge weiter, „jahrelang hat einer ein Haus gebaut, dann die Atombombe – und das Haus ist weg – und das halbe Baumhaus!“ – Kichern, Schreck, albernes Gelächter.
Und ich erzähle mir, wie ich in der Abiturstufe, im Unterricht der Zivilverteidigung, lernte, einen Trainingsanzug gegen Atomstrahlung zu imprägnieren durch stundenlanges Kochen in – was war es gewesen? – Kernseife? Und wie meine Freundin und ich nach diesen deprimierenden Stunden in die Teestube des Café Moskau einkehrten oder in der Mokka-Milch-Eisbar bei einem Erdbeermilch-Eis-Shake saßen und unser Kichern in Hysterie umschlug und wir empört versuchten, mit russischem Mischka-Konfekt unser Entsetzen und die unterschwellige Angst zu vertreiben.
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© 2022 Text & Bild von Monika Jarju
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