Von Marek Födisch
Eine merkwürdige, gänzlich unbekannte Stimmung blieb zurück, die vielleicht von einer seltsamen Begegnung herrührte, doch ohne diese irgendwohin verorten zu können. Auch ein Wonach war nicht auffindbar, an diesem frühen Abend.
Als W. darüber nachsann, geschah lange nichts. Dann, nach einer nicht messbaren Spanne, befand er sich inmitten von sprechenden, pulsierenden Räumen, deren Botschaft nicht zu verstehen war. Sein hineingeworfenes Gestammel fiel sogleich aus dem Raster. Bekanntes hielt sich bestimmt nicht lange hier auf, dachte er kurz. Lichtwände stürzten auf ihn ein, mit einem Gewirr an Klängen, die sich allesamt Wege und geheimnisvolle Bahnen ins Jetzt gebrochen hatten: in seine viel zu kleinen Ohren, in die ungläubigen Augen, in seine stinknormale Welt.
Er war nicht einmal in der Lage, sich aus dem moosgrünen Sessel zu erheben. Die gezielt hervorgebrachten Gedanken, als Gegenmaßnahme sozusagen, überkreuzten, überschlugen sich zwar mit letzter Mühe, doch reichte es nicht zu einem festen Seil des Willens, um sich mit jenem Rest von Verstand herausziehen zu können. Mehrere Versuche, sich zumindest akustisch bemerkbar zu machen, gingen ebenso fehl, da seine Lippen, aus unerfindlichen Gründen, zu keiner Bewegung mehr fähig waren. Und für eine polternde Befreiung saß W. einfach zu fest, ganz an die Lehne gedrückt, wie gebannt.
Eine Ewigkeit später: W. wähnte sich schon vorm Ziel, am Handy. Er wollte sich bei Matze, einem ehemaligen Mitschüler, nach Karten für das am Wochenende angesetzte Fußballspiel erkundigen. Seine Stimme war glücklicherweise zurück, wenn auch noch etwas schwach. Jedoch bekam er keine Antwort auf sein zittriges Hallo! Nicht mal ein vages Geräusch am anderen Ende der Leitung zeugte von einem Gegenüber. Vielleicht die falsche Nummer gewählt?, murmelte er. Es fühlte sich dennoch verhältnismäßig unproblematisch für ihn an. Ein Grund könnte hierbei sein, dass W. sich endlich wieder etwas bewegen konnte. Der Lichtrummel hatte sich verzogen. Erklärung – Fehlanzeige.
W. saß wieder im Sessel, nachdem er in der Küche ein Bier getrunken hatte. Es war eher der Durst, der ihn dazu bewog. Von Appetit konnte echt keine Rede sein! Tagsüber aß er, wider seiner Gewohnheit, nur eine kleine Scheibe Brot, die sehr spärlich mit Gouda belegt war. Übersättigt und benommen von all den Eindrücken, musste W. nicht nur der geistigen Verdauung Tribut zollen. Sein Magen war ebenso involviert, sodass eine unruhige, blasse Müdigkeit auf ihm lastete, die auf der Polsterung regelrecht hervorstach, während sein Gedärm symphonisch dazu rumorte. Rettender Schlaf stand allenfalls in ungefährer Reichweite. Dann kamen sie aber jäh zurück – diese Wände. Nein!, schrie es in ihm. Was ist nur lo… ? Flimmern. Sein Hinterkopf fiel auf die Kopfstütze.
Am nächsten Nachmittag stürzte seine Frau ins Wohnzimmer, die von ihrer Reise aus Brügge zurückkam. Bereits seit Stunden hatte sie mehrmals und vergeblich versucht, ihren Mann an den Hörer zu bekommen, so, wie es vor acht Tagen eigentlich vereinbart wurde. Aus Sicht seiner Frau verhielt sich W. schon seit Wochen ganz merkwürdig: Geschirr fiel ihm öfters aus den Händen, die Tube Zahncreme blieb beinahe täglich unverschlossen nach der Benutzung am Badezimmerspiegel liegen, dann das Kichern mit seinem Enkel am gedeckten Tisch, welches ohne scheinbaren Anlass minutenlang anhielt, ungeachtet der Tatsache, dass der Zehnjährige längst zum Essen übergegangen war, sogar verwundert und sichtlich genervt ins seltsam komische Gesicht seines Großvaters blickte, klanglich unterstrichen mit hörbarem Räuspern. Auch der Umstand, dass W. mitten in der Nacht über philosophische beziehungsweise psychologische Probleme mit seiner Liebsten sprechen musste, war ein Indiz für eine gewisse Dringlichkeit in ihm, die sich enorm von der jüngsten und routinierten Vergangenheit in den vier Wänden unterschied. Vor ihrer Abreise stellte er sie beispielsweise vor das Rätsel des Fremden in uns. Vorausgegangen war möglicherweise ein Vortrag von Arno Grün, auf den er sich schon einmal bezog. Das Thema spielte für seine Frau, soeben aus dem Tiefschlaf gerissen, nun wirklich keine Rolle, im Gegenteil. Die Vehemenz seiner Hände und der laut artikulierten Gedanken verstörte sie.
W. nahm von allem keine Notiz mehr. Regungslos, ausschließlich passiv, folgten seine Hände und Arme der Regie ihrer Hände. Sein Blick ertrug starr eine alte Spartakus-Verfilmung, die gerade im Fernsehen lief. Und sein gerufener Name war nurmehr Rauch, kein Schall mehr für ihn. Ihre Ohren allein waren für seinen rätselhaften Ausklang bestimmt.
Sie setzte sich auf ihren Reisekoffer. Von draußen drangen Kinderstimmen und Musikboxbässe ins vorübergehende Schweigen, das Telefon schon in Sichtweite.
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© 2022 Marek Födisch
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