Von Michael Wiedorn
Nachts stürzen Regenschauer wie panisch flüchtende Geier aus den Höhen des Himmels zu Boden. Die gespenstisch weiße Mondscheibe leuchtet zudringlich in die stillen Zimmer eines verwahrlosten Hauses. Der Mond bestrahlt einen auf Gesicht und Bauch liegenden Männerkörper. Nackt bis auf die Unterhose.Er ist nicht mehr ganz jung. Der Bauch ist aufgebläht. Schläft der Mann oder ist er nur bewusstlos? Ist er sturzhackevoll und hat es nicht ins Bett geschafft? Der Teppich, auf dem der Nackte liegt, ist rot gefärbt. Rot, gelb und grün. Geometrische Muster, stilisierte Blumen und Tierumrisse. Um die zusammengesackte Gestalt verdichtet sich das Rot. Kräftiges Dunkelrot. Plötzlich stürzt sich ein Tier mit seinem ganzen Hass in die Wirklichkeit. Blut schüttet aus der Höhe. Draußen stürmt es. Die Bäume vor dem Fenster regen und winden sich, als plagten sie unerträgliche Schmerzen. In einer Folterzelle windet sich ein schreiendes Stück Fleisch. Die Totenstille im Haus kämpft gegen das besinnungslose Toben der Außenwelt an. Die Wände würgen alles Leben im Zimmer ab. Steine einer zusammenstürzenden Mauer erschlagen lebende Menschen. Die geöffnete Balkontüre klappt immer wieder auf und zu. Wohl noch bis zum anbrechenden Morgen. Hat der Bewohner abends vergessen sie zuzuriegeln? Hat ein Eindringling sich gewaltsam Zutritt verschafft? Im Hintergrund des Zimmers steht ein hellbrauner Pressholzkleiderschrank. Ein dunkelbraunes, klobiges Wohnzimmerbuffet mit Glasvitrine. Eingeschrumpfte Porzellanpferde galoppieren rastlos über Glassteppen gegen Holzmauern an. Eine süß rosa leuchtende Gondel bringt über die Kanäle Venedigs zerbrochene Pferdeleiber an das andere Ufer. Ein ungemachtes Bett, dessen Decke aufgeschlagen daliegt. Wer hat den Schläfer aus seinen Träumen gerissen? Das Laken ist gelb vom Schweiß der Träume. Um das Bett stehen ausgetrunkene Bierflaschen.
Die Kleidung des Jungen ist ganz durchtränkt von den Regenschauern. Er versucht – ohne es zu wissen, wohin er rennt – aus dem Wald zu entkommen. Die Dornbüsche verweigern ihm den Durchlass. Die Dornensträucher wachsen um seine Glieder. Die Äste streichen angriffslustig über seinen Körper. Er hat Angst. Ist die Feuchtigkeit an Rumpf und Gliedern Regenwasser oder Angstschweiß? Der Mond beobachtet ihn und wacht darüber, daß er nicht entweichen kann. Der Schuld kann man nicht einfach so entfliehen. Er hat Blut an den Händen, das mit keiner Seife jemals abzuwaschen ist.
Die Gleichgültigkeit und Trägheit seines Vaters. Der Vater drehte ihm sein Gesicht zu. Kleine, listige Augen in einem weißen, aufgedunsenen Gesicht, an dessen Wurstigkeit jeder, der etwas von ihm wollte, abprallte. Das schwabbelnde Fett unter der käsigen Haut war eine jahrelange Ansammlung von Müdigkeit. Sie war eine Mauer, an der der Sohn sich immer wieder wund stieß. Seit dem Zusammenbruch der Firma verbrachte der Vater die Tage und Nächte im Bett liegend in diesem stinkenden Zimmer. Der Alkohol hielt ihn in einem schützenden Nebel gefangen. Der Erzeuger lebte außerhalb der Welt wie ein Säugling im Brutwasser.
Eine heftige Explosion. Ein betonharter Schlag lässt die die Welt ausgrenzende Schädeldecke auseinander brechen.
Der Vater war jung und reich. Der Betrieb lief. Er lebte mit seiner Frau und seinem Sohn in einem weiß-grauen Einfamilienhaus. Einer Villa in nüchternem Licht, das kein Dunkel zuliess. Das Haus war schmucklos und fade wie der leer umtriebige Arbeitsvormittag in einem Verwaltungsgebäude. Der Zweck von Tageslicht ist die Förderung des Wirtschaftswachstums. Das Licht erwürgte in Haus und Garten jeden Schatten.
Der Gemahl saß mit seiner Gemahlin und seinem Sprössling auf grau bezogenen Sesseln. Vater, Mutter und Sohn saßen reglos und stumm um einen funktional nüchternen Tisch. Ein Messinggestell mit Glasplatte. Es war Ostern. Ein Palmkätzchenstrauch in geometrisch eckig gestalteter Vase wagte zu gedeihen. Graue Pelzknospen auf verkümmerten Zweigen. Weisse Vorhänge vor den Fenstern zur Straße hin. Der Vorgarten war mit Steinplatten gepflastert. Ein Garten aus Stein. Eine kleine Ecke war mit künstlich wirkendem moosgrünem Rasen bewachsen. Vielleicht aus Plastik. Konnte in diesem Garten etwas wachsen? Jegliches Unkraut war säuberlich aus den Ritzen zwischen den Platten ausgerottet worden. Das Gras peinlich präzise geschoren wie ein Zuchthäuslerschädel. Eine hohe, graue Mauer sperrte den Garten vom Draußen ab. Der Vorplatz zu den drei Garagen schloss sich an den Steingarten an. Haus und Garten rochen nicht. Es roch nur leicht nach Benzin. Unter den Platten und dem Rasen gab es keine Erde. Die Drei im Wohnzimmer blickten zu Puppen erstarrt auf die Palmkätzchen auf dem Glas- und Messingtisch. Jeder lebte für sich Milchstraßen weit entfernt vom Anderen. Puppen fühlen keine Leere. Es war Ostern.
Er glaubt, dass er sich nie mehr vom Tatort wird entfernen können, sondern sich immer tiefer in die Dornbüsche verstrickt. Er träumt von den Lichtern entfernter Behausungen. Befreiung aus dieser alles aufsaugenden Regennacht. Würde ihn jetzt die Polizei aufgreifen und Gericht und Gefängnis zuführen, wäre er erleichtert. Die Regenmassen haben den Erdboden in Schlamm aufgeweicht. Es schmatzt und gluckst. Die Krallen der Dornbüsche greifen und klammern sich in das Fleisch. Der Boden zieht und zieht den Körper ins Schwarze. Eine uralte Frau – sich immer wieder verjüngend seit Erdzeitaltern. Ihre Haare sind schlammverkrustet und Muscheln und Schnecken nisten darin. Würmer und Schlangen. Das Gesicht ist zu einer erdbraunen Maske erstarrt. Sie holt ihren Sohn. Dornen schneiden ihm quellende Wunden ins Fleisch.
Die rot lackierten Fingernägel zählten die eingenommenen Geldscheine. Firmengewinn. Die Tausender waren zu Bündeln zusammen gebunden. Immer wieder führte sie den Zeigefinger an ihre zornrot geschminkten Lippen um ihn zu befeuchten. Der Saugnapf leuchtete rot wie nach einem Faustschlag. Ihre Gesichtsfläche war kalkweiß gepudert und versteinert wie eine Mauer, reglos und tot. Wenige Tage nach dem Konkurs verschwand sie spurlos. Sie stand auf dem Straßenasphalt und der Boden verschluckte sie durch den Straßenbelag hindurch in die Tiefe. Tote treiben durch die Erdmassen. Seit dem Verschwinden seiner Frau verfiel Vater der Schläfrigkeit. Die Tage tauchten in Schlaf und Alkoholdunst unter.
Der Ehemann blickte misstrauisch über die Schulter zu seinem Sohn zurück und legte seine Hand beschützend auf die Schulter seiner Frau. Das in Liebe vereinigte Paar zeigte ihrem Sohn den feindlich abweisenden Rücken. Mann und Frau hatten sich schon lange nichts mehr zu sagen. Ihre Liebe beruhte auf der Abwehr einer Bedrohung. Sie wollten weg vom Fremden in ihrem eigenen Haus. Der dem Sohn zugewandte Rücken des Vaters verhärtete sich zu einem Schutzwall gegen ihn. Eine eiserne Faust schlägt zu. Ein fremdes Tier stürzt sich mit seinem Hass in die Wirklichkeit. Brennende Pferde rennen ohne Unterlass über in der Hitze glühende Steppen gegen Mauern an. Eine Gondel transportiert über abgestorbene Kanäle zerbrochene Pferdekadaver ans jenseitige Ufer. Das Elternhaus glitzerte keimfrei im reglosen Frieden redlich erworbener Güter. Vater und Mutter verdienten Ruhe und Geborgenheit.
Das Kind wird früh sein Heim verlassen. Er wird das Haus nie verlassen. Durch die eintönigen Tage, in denen nichts geschieht und nie etwas geschehen wird, schwimmt und taucht er in verfaulten Sümpfen. Er wird versinken, bis nichts mehr an ihn erinnern wird.
Er blickt mit sehnsüchtigen Augen aus dem stechend weiß getünchten Zimmer – harte Kanten stossen an Wänden und Decken zusammen – auf die aufgetürmte Steinmauer und den leuchtend grauen Himmel darüber.
Forscher bringen in einem abgelegenen Sumpf die Moorleiche einer vor Erdzeitaltern ertrunkenen Frau ans Tageslicht.
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© 2022 Michael Wiedorn
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