Ein lauer Mai-Abend.
Gestern.
Wir sassen in der Pizzeria.
Wie jeden Donnerstag um 20:00 Uhr, bei Da Gianni. Bereits seit zehn Jahren jeden Donnerstag. Derselbe Tisch. Dieselben verschrumpelten süsslich schmeckenden Oliven. Dieselbe rotweiss karierte Tischdecke mit denselben Tischtuchklammern aus zerkratztem Kunststoff.
Der Chianti in der Korbflasche war bereits entkorkt und die Weingläser standen sich gegenüber. Es war unser Tisch, ganz hinten im dunklen Séparée neben dem Pizzaofen. Das Fenster hinter dem Tisch ungeputzt – bestimmt auch schon seit zehn Jahren. Schmutzablagerungen durch Abgase.
Eigentlich war es mir neben dem Pizzaofen zu heiss, aber ich wusste, wie gerne Du die Flammen beobachtest. Dich das Flackern in einen kontemplativen Zustand befördert. Andere schauen sich den Tatort an, um die Gedanken zu betäuben, Du Dir die züngelnden Flammen und ich mir die schwarzen Halbmonde unter meinen Fingernägeln.
Es war eine Routine, festgefahren wie die Kaugummis auf dem Asphalt. Das Restaurant, der Rotwein, die Pizza Buffala und die Pausen in unserer Stille.
Ich wollte Dir schon lange sagen, dass mich ein Heimweh plagt. Heimweh nach dem Alltag vor der Routine. Damals, als wir unser Finger ineinander verschlungen haben wie ein geflochtener Hefezopf.
Wir erzählten uns unsere Träume, Träume die wir bereits am Horizont verwirklicht sahen. In Greifnähe, es lag an uns, die Hände danach auszustrecken. Doch wir taten es nicht. Gegenseitig schoben wir uns die Schuld häppchenweise zu. Die Feigheit, dass wir nicht ausgebrochen waren aus dem schleppenden Alltag, der sich schleichend, irgendwann, wie Zement an unsere Füsse gehängt hatte. Die Schuldzuweisung war nicht offensiv. Eher defensiv, trippelte daher in einem Tarnmantel, bittere Blicke, fehlende Umarmungen. Und immer stellte sich die unausgesprochene Frage zwischen uns: Weshalb haben wir kein One-Way Ticket nach Thailand gebucht? Weshalb nur?
Als wir nun gestern, an diesem lauen Donnerstagabend im Mai in der Pizzeria bei Da Gianni sassen, blickst Du mir das erste Mal wieder in die Augen. Der Schleier über Deinem matten Blick geklärt, wie nach einem Frühlingsgewitter. Unbeholfen nimmst Du meine Hand in die Deinige, leicht feucht, nuanciert zittrig. „Wollen wir heute einmal eine Lasagne bestellen?“ Ich drücke Deine Hand „Unbedingt!“
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© 2022 Sandra Engelbrecht
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