Omas Tagebücher

Von Carmen Schmidt

Als ich 13 Jahre alt war, stand meine zweite Oma plötzlich in der Küche. Bei Nacht und Nebel war sie durch das verminte Niemandsland der ehemaligen DDR gekrochen und über den Grenzzaun geklettert. Sie hielt das Leben in der ehemaligen DDR einfach nicht mehr aus. An diesem Abend hatte ihr Sohn Armin zusammen mit einem Kollegen Dienst als Grenzsoldat an der Fluchtstelle und den Schießbefehl. Sie und er haben nie ein Wort darüber verloren, aber ich nehme an, dass er ihr auf dem Weg in die Freiheit geholfen hat.
Natürlich war ich sehr erstaunt, die Oma, die ich nur von kurzen Besuchen, von Fotos und aus Briefen kannte, leibhaftig zu erleben. Wir fremdelten anfangs ein bisschen, aber das gab sich schnell.
Dann wurden wir enge Verbündete, unternahmen viel zusammen und redeten über alle möglichen Themen. Bei unseren Spaziergängen hat sie sich oft über die schlechte Ehe meiner Eltern beklagt. Damit fühlte ich mich zeitweise überfordert.
Sie wohnte im Erdgeschoss unseres Hauses, wo wir zwei kleine Wohnungen für die Omas hatten. Die beiden waren äußerlich und innerlich sehr unterschiedlich. Oma Frida war groß und stämmig, Oma Dorette klein und zierlich. Oma Frida begann ihre Tage mit einem Gebet, Oma Dorette mit einem Gläschen Korn. Die beiden lebten wie Hund und Katze, redeten kaum miteinander und versuchten, die jeweils andere bei den Enkelkindern anzuschwärzen. Das brachte mich in eine schwierige Lage, denn ich liebte sie beide, jede auf ihre Art.

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Bisher verbrachte ich meine Abende bei Oma Dorette, die sich sehr für meine Männerbekanntschaften interessierte,
nun unterhielt ich mich oft mit der anderen Oma. Besonders spannend fand ich ihre Erzählungen über das Ende des zweiten Weltkrieges. Sie musste mit ihrer Familie das Gut in Ostpreußen verlassen und flüchten. Nach vielen Stationen landete sie mit ihrem ältesten und ihrem jüngsten Sohn auf einem Bauernhof.

Hier erfuhr sie, dass mein Onkel und mein Opa sich in einem Arbeitslager von weitem gesehen hatten.
Am Ende des Krieges landete sie mit ihren Kindern im Westen. Sie zog mit drei Kindern zurück in die DDR, zwei blieben im Westen.
Als die Grenze fiel, kamen alle Verwandten zu Besuch. Das Warenangebot hier überwältigte sie.
Nach ihrer Flucht arbeitete Oma Frida in einem Krankenhaus. Sie liebte Küchenarbeit und nähen. Viele exklusive Kleidungsstücke verdanke ich ihr.
Mit Beginn der Rente zog sie in eine Senioren-Wohnanlage. Meine andere Oma starb kurz zuvor an Nierenkrebs. Bei der Trauerfeier verlas mein Vater einen Brief, in dem sie gestand, dass nicht alle fünf Söhne von meinem Opa stammten. Drei waren von ihrer großen Liebe, dem Obsthändler, der an der Ecke unserer Straße einen Laden besaß. Die beiden konnten nicht voneinander lassen.

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Sie hat ihre Söhne sehr politisch erzogen und darauf bestanden, dass sie an jedem 1. Mai demonstrierten.
Meine Oma aus der ehemaligen DDR starb mit 101 Jahren im Krankenhaus. Zuvor hatten wir ihren 100. Geburtstag mit allen Verwandten gefeiert. Damals sagte sie: “ Das wird hier alles zusammen brechen, wenn ich nicht mehr da bin.“
Sie hatte Recht. Nach ihrem Tod fiel die Familie auseinander.
Ich hatte mir von ihr die Flucht-Tagebücher gewünscht. Nach ihrem Tod übergab mir eine Schwester die Tagebücher und ihren Ehering.
Im Gegensatz zur anderen Oma hat sie ihrem Mann ihr ganzes Leben lang die Treue gehalten.

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