Von Michael Wiedorn
Eine offene Stahltüre führt mich ins Dunkel. Sie ist der Eingang in einen Bunker. Dicke Betonwände widerstanden im Zweiten Weltkrieg den Luftangriffen. Aus dem Inneren greift mich der beißende Gestank nach Scheiße und abgestandenem Schweiß an. Würgend taumle ich vorwärts. Ich habe Angst in die Finsternis und den Dreck einzutauchen. Ein bulliger Mann in mittleren Jahren verlangt von mir in Befehlston das Eintrittsgeld und drückt mir einen Plastikbeutel in die Hand und eine Hundemarke mit der Nummer 683. Mit dem Plastikbeutel weiß ich zuerst nichts anzufangen. „Dort kannst du dich umziehen“ – weist er mich an und deutet irgendwohin in eine schwarze Ecke. Ich ziehe nur meine Jacke aus und versuche sie tollpatschig in den Sack zu stopfen, dafür suche ich nach einer nicht ganz so dunklen Ecke. „Könntest du hier Platz lassen“ brummte der plump und schlagkräftig gebaute Türsteher. Vielleicht knallt er mir gleich eine – fürchte ich. Seine Stimme ist zornbebend und es stinkt bestialisch. Ein Sträfling tritt seine Haftstrafe an. Endlich habe ich meine Scheißjacke in den Scheißbeutel gequetscht und gebe mein Gepäck an der Kasse ab.
Ich trage ein himmelblaues, verschwitztes T-Shirt, dunkelblaue, vom Dreck bräunliche Jeans und alte, schwarze Turnschuhe. Vor mir erstrecken sich völlig lichtlose Korridore, die mich tief hinein ziehen. Ich werde jeden Moment mit voller Wucht mit meinem Schädel gegen den unbarmherzigen Beton prallen. Ich werde ins Schwarz treten und tief, tief hinab in den Abgrund stürzen. Ich werde auf etwas Feuchtem ausrutschen und meine Kleidung ist dann voller Scheiße. Nach einigem Zögern beginne ich mich vorsichtig vorwärts zu tasten. Ich kann nicht aus Feigheit die ganze Nacht am Eingang stehen bleiben. In der Ferne sehe ich jetzt matte Lichter. Ich fühle mich wie tief unten in der Kanalisation. Kanalräumer haben bei ihrer Arbeit Lampen am Helm. Wahrscheinlich huschen hier keine Ratten herum. Ich höre keine Wassertropfen von der Decke fallen. Ich nähere mich dem erlösenden Licht und erreiche die Ausschankbar. Hier halten sich einige schwer erkennbare Gestalten auf. Keine Kanalarbeiter und keine Sträflinge. Ich bestelle ein Schultheißbier. Ich fühle mich unwohl. Schüchtern wie ein Klosterschüler vom Lande. Ich erhalte mein Bier und der Mann, der mich bedient, belehrt mich, daß ich erst beim Verlassen des Ladens zahlen soll. Sein nackter Körper ist drahtig ohne das geringste Fett. Sein Gesicht ist nicht alt, aber es ist verbraucht und verlebt und zerfurcht von unzählbaren und tiefen Falten. Es gibt im ganzen Raum keine richtigen Sitzgelegenheiten, sondern nur dicke Eisenrohre und Stangen zum anlehnen und aufstützen. Hier darf keine Trägheit, keine Müdigkeit aufkommen. Technomusik wummert und hält die gierige Erwartung auf Abenteuer und Rausch lebendig. Ekel durchdringt mich, schneidet durch meinen Magen. In den Schützengräben des Ersten Weltkrieges hat es so gestunken. Die Pisse und Scheiße der Soldaten vermischten sich mit Erde und Schlamm. Ein muskulöser Junge mit rot-blondem Haar – die blecherne Hundemarke um den Hals mit seiner Nummer und der Bezeichnung seiner Einheit öffnet sein Koppelschloß, zieht seine Hose herunter, daß die Arschbacken entblößt sind und drückt. Er sitzt breitbeinig in der Hocke. Er schließt genüßlich die Augen und seine feuchten Lippen sind leicht geöffnet. Seine Visage ist kantig und roh. Fast alle hier im Bunker tragen SM-Ledergeschirr am nackten Körper. Einer trägt Kot im Gesicht und auf Brust und Armen wie Kriegsbemalungen. Schwarze Gummistiefel. Gelbe Gummistiefel wie beim Tiefbau. Von Schlamm und Scheiße und Dreck braun befleckte Gummistiefel treten tief in die schmatzende und quietschende Erde. Vorne Stahlkappen. Soldatenfüße in schweren Knobelbechern treten, zertreten die feuchte Erde. Die Haut eines nackten Körpers platzt unter den genagelten Stiefelsohlen vorwärtsmarschierender Kompanien. Der braune Schlamm verwandelt sich in strömendes Blut. Ein großer, kahlgeschorener Kerl – große Hakennase, athletische Figur unter Gummischürze – läßt sich von seinem Sklaven Eier und Schwanz bearbeiten. Die Haare auf dem Kopf des Sklaven sind nicht ganz so kurz wie die des Herren. Leichter, schwarzer Flaum. Eine elegant gebogene, lange Nase. Die sensiblen, schwarzen Augen versüßen den Gesichtsausdruck. Er trägt ein schwarzes Lederhundehalsband und schwarze Gummikleidung. Ein nackter, blonder Lockenkopf mit aufgeblähtem Bauch umkreist das Paar und starrt begeistert den Herrn an. Er lächelt und der Sado blickt ernst und ausdruckslos woanders hin. Ich fühle mich hier in meiner normalen Freizeitkleidung wie ein Studienrat bei einem Theaterbesuch. Meine eigene Gegenwart langweilt mich.
Ich habe mein erstes Bier wie nichts runtergeschluckt, gehe zur Theke um mir ein Neues zu bestellen. Hinter der Theke steht jetzt ein grauhaariger und bärtiger Nackedei und unterhält sich ausführlich mit einem Gast. Er beachtet mich garnicht. Ich stehe etwas verlegen da und stoße plötzlich laut brüllend mit harter Stimme meine Bestellung aus meiner Kehle. „Ein Schultheißbier“. Ich bekomme mein Bier und zeige meine Nummer. Meine Hand greift gierig die eiskalte Flasche und ich kippe durstig und lustvoll einen kräftigen Schluck in meine Kehle. Gebirgsbäche und Meeres-wogen durchspülen jede Zelle meines verschwitzten Körpers. Ein splitternackter, älterer Herr stolpert über meine Füße und entschuldigt sich höflichst. Ein Herr mit gehobener Stellung. Der große Sado mit dem riesigen Zinken als Nase nimmt seinem Sklaven das Hundehalsband ab, flüstert ihm etwas ins Ohr – wohl den Befehl, daß er wegtreten soll. Der Sklave nimmt den Befehl mit reglosem Gesicht entgegen und versucht möglichst stramm von den Knien hoch zu kommen. Es fehlt der Schwung der Jugend und der Gewöhnung an Dienst und Gehorsam. Der Befehl des Herrn sollte telepathisch direkt ohne Worte ins Hirn des Knechtes blitzen und dieser führt unverzüglich den Befehl des Herrn aus. Beim Eintritt des Feldwebels springt der Rekrut wie von der Tarantel gestochen wie eine Sprungfeder hoch. Der Sklave haut ab. Der Meister steht mir gegenüber. Alleine. Ich lasse meinen Blick über ihn schweifen, als wollte ich nur beobachten und wäre an nichts interessiert. Er blickt mir öfters wie zufällig ins Gesicht. Ein leichtes Lächeln strich über sein Gesicht. Er will wohl, daß ich seinen Schwanz in meinen Mund nehme. Ein miefelndes Stück Fleisch, das mir Schleim in den Rachen spritzen wird. Ich stecke die Öffnung des Flaschenhalses zwischen meine durstigen Lippen und nehme einen kräftigen Schluck kalt prickelndes Bier. In der Hose schläft ein schlaffes Stück Fleisch mit schlotternder Vorhaut. Alles läßt mich kalt. Gleichgültigkeit. In einem Obdachlosenasyl lassen verlassene, häßliche Greise einen in vergilbte Bettwäsche fahren. Pilze überwuchern ihre Füße. Triefäugige Pennerinnen schmieren ihre Fäkalien an Möbel und Wände. Der Sado steht gelangweilt auf, läuft etwas herum und setzt sich woandershin.
Ich stehe ebenfalls auf und möchte durch die abgelegenen Hinterräume streifen. Meine Augen haben sich an das Dunkel gewöhnt. Im Zweiten Weltkrieg warteten hier Leute das Ende der Luftangriffe ab. Vielleicht wird Berlin bald von einer Atombombe ausgelöscht. In den hinteren Räumen halten sich nur wenige Besucher auf. Eisenrohre, hohe Decken, die sich im Finstern auflösen.
Schwarze Flächen, von denen ich nicht weiß, ob sie verschluckende Schwarze Löcher sind oder schädelbrechende Metallplatten. Ich fühle mich verlassen. Es gibt kein Draußen. Jedes Licht und alles Leben auf der Erde sind verlöscht. Die Technomusik wummert zornig und traurig. Ich höre ein regelmäßiges Klopfen gegen die Eisenträger. Der Gefangene weiß, daß er nie wieder das Tageslicht sehen wird. Geblendet und mit feuchtem Loch zwischen den Beinen, das immer wieder aufgerissen wird, hat man ihn in einen Krüppel verzaubert. Immer wieder das gleichmäßige Klopfen gegen die Eisenträger.
Ich suche wieder das Licht und die Nähe der Anderen. Ich komme an einem Gestell vorbei, an dessen Stangen sich einige Gäste lehnen. Einige sitzen auf einer Holzfläche. Ein Jüngerer in Leder blickt mich an. Will er mir etwas sagen? Hier ist kein Ort für Gespräche. Meine Zunge hat keine Lust über fremde Haut zu streichen und irgendwelche Schweißtropfen einzuschlürfen. Das Leben pocht und pulsiert hier von klitzekleinen, wimmelnden, gefräßigen Lebewesen. Das Unsichtbare ist kleiner als klein. Jede Hautfläche, jede Hautpore aller Wirbeltiere. Fleischgewebe zersetzt sich. Der Tod arbeitet meistens leise, sehr leise und langsam. Er hat alle Zeit der Welt. Der Mann lächelt mich an. Wir reden einige Worte und gehen getrennt unserer Wege.
Ich gehe zur Theke und bestelle noch ein Bier. Ich bin schon angetrunken. Nicht müde werden! Der lockige Blonde mit Bauch kommt wieder an mir vorbei und fragt mich etwas Unverständliches über meinen Arsch. Die Musik überdröhnt seine Stimme. Er will wissen, ob mein Hintern voll Scheiße ist. Er will sich hinknien. Ich werde ihn zwingen mein rohes Inneres sich einzuverleiben. Die feste, harte Kraft aus dem Inneren. Meine Seele besteht aus vielen Höhlen und Gängen und Kammern, in die noch nie Licht gedrungen ist. Sie ist feucht und abstoßend. Nein, mein Hintern ist leer und öd. Kein Drang, der sich entladen will. Enttäuscht geht mein Verehrer weiter. Ein Greis, der schon den ganzen Nachmittag an seinem nicht steif werden wollenden Schwänzchen reibt, läuft ratlos durch die immer leerer werdenden Räume. Vielleicht redet er sich selbst immer wieder ein, daß er doch auch seinen Spaß gehabt hat. Immer mit großen Augen umstrich er Gruppen und Pärchen, die zu Gange waren. Man duldete seine Anwesenheit wie die einer Schmeißfliege. Er ist zu alt. Der Zug ist für ihn endgültig abgefahren. Die drahtige Bedienung mit dem faltigen Gesicht sammelt die leeren Flaschen zusammen und lächelt mich an. Ich fühle mich geschmeichelt und kann gehen.
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© 2022 Michael Wiedorn
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