Ein schmaler Grat zwischen Himmel und Hölle

Von Franziska Rohrmoser

Flüchtig huschte ich über den Gehweg, die schwarze Sporttasche über meine rechte Schulter gelegt. Bei jedem Schritt schlug sie mir heftig in die Kniekehlen, doch das ignorierte ich.

„Vielleicht nicht die beste Tasche für so eine Aktion“, motzte die Stimme in meinem Kopf kritisch. Ich ignorierte auch das und lief zielstrebig weiter. In der linken Hand hielt ich die Schlüssel für Mareikes Auto, einen silbernen Golf. Ich umklammerte den Schlüssel so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Nicht umdrehen, befahl mir meine innere Stimme weiter. Ich folgte ihr gehorsam. Als ich am Straßenende nach rechts in die Breslauer Straße eingebogen war, sah ich den Golf im fahlen Licht der Straßenlaternen schimmern. Mein Herz schlug noch etwas heftiger, als ohnehin schon, als ich auf mein neues Gefährt zulief und mit zitternden Fingern nach dem Schloss suchte.

„Komm schon, mach endlich!“

Ein Befehl aus meinem Kopf. Meine Hände zitterten noch mehr und beinahe ließ ich den Schlüssel fallen.

„Okay, beruhig dich.“ Der Versuch, mich etwas ruhiger atmen zu lassen. Es waren Engelchen und Teufelchen, die in meinem Kopf diskutierten, was der bessere Umgangston mit mir war. Ich versuchte, die beiden verstummen zu lassen, während ich immer noch das Schloss suchte. Klick. Schwungvoll öffnete ich die Tür, schleuderte meine Tasche auf den Beifahrersitz und schwang mich hinein. Zu schnell, zu viel. Ich unterdrückte den gequälten Aufschrei, der sich bereits in meinen Lungen startklar gemacht hatte, hielt die Luft an, knallte die Tür zu und fasste mir an die rechte Seite in Höhe der Rippen. Vor meinem inneren Auge tauchte ein Bild davon auf, wie die Stelle gestern noch vor dem Spiegel ausgesehen hatte. Es einen blauen Flecken zu nennen, hätte die Beschreibung ziemlich verfehlt, ich sprach von dunkellila. Ich zwang mich ein paar Mal tief durchzuatmen und startete nun vorsichtig das Auto.

„Na mach schon!“, zischte das Teufelchen. Zittrig setzte ich den Blinker links, schielte kurz in den Seitenspiegel und fuhr los.
Durch die Stadt und ab auf die Autobahn. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie viele Stunden Autofahrt ich vor mir hatte. Bis zu Heiko nach Hannover waren es sechs Stunden.

„Das schaffst du schon.“, stand mir das Engelchen bei.

Ja, das schaffe ich. Die Wahl, die ich hatte, war schließlich auch nicht besonders groß. Mein Herz raste noch immer. Ich versuchte, mich auf das Fahren zu konzentrieren. Obwohl ich fast nicht geschlafen hatte, musste ich topfit für die Fahrt sein. Hoffentlich würde mich das Adrenalin lange genug wachhalten. Mein Fokus lag darauf, mich auf das Fahren zu konzentrieren. Ich fuhr zügig, doch nicht zu schnell. Die Angst war mein ständiger Begleiter. Warum überholt der so langsam? Versucht er etwa, in mein Auto zu sehen? Wird er gleich wieder hinter mir einscheren? Pure Paranoia.

„Ganz ruhig, es ist noch dunkel, man kann dich im Vorbeifahren also überhaupt nicht sehen.“ Das Engelchen tat seinen Job.

„Gib lieber mal ein bisschen Gas, die Dunkelheit schützt dich nicht mehr lange.“ Auch das Teufelchen war nicht eingeschlafen, doch ich drohte, es zu tun.

„Mensch, wach bleiben! Oder willst du uns alle umbringen!“, schrie eben dieses augenblicklich.

„Lass sie in Ruhe sie macht genug durch.“

Doch ich stimmte dem Teufelchen stumm zu. Ich musste mich wachhalten, durfte auf gar keinen Fall in einen Sekundenschlaf fallen. Ich betete zu Gott, dass die Sonne bald aufgehen möge, auch wenn mich das nicht sicherer fühlen lassen würde. Ein Blick auf die Uhr. Ein heller Schimmer über dem Horizont, ja es konnte nicht mehr allzu lange dauern. Ich wollte keine Sekunde daran denken, was vor mir lag, es erfüllte mich zu sehr mit purer Panik und im selben Moment wollte ich nicht daran denken, was hinter mir lag. Es war die Hölle. Es wurde hell und ich hatte so langsam keine andere Wahl mehr, als einen Halt einzulegen.

Ich hielt Ausschau nach einem Rastplatz und achtete bei der Parkplatzwahl darauf, möglichst keine anderen Autos um mich herum zu haben. Und was sollte ich sagen, aufgrund des in Deutschland herrschenden Lockdowns waren die Straßen weniger überfüllt und somit auch die Raststätten leerer. Ich parkte und atmete tief durch.

„Lass dir nicht zu viel Zeit!“, ermahnte mich das Teufelchen und es hatte Recht. Zeit zum Nachdenken war schlecht, denn es war die Zeit in der ich mich selbst am meisten gefährdete, mein Vorhaben abzubrechen. Ich kramte in meiner Tasche, zog meinen Kosmetikbeutel hervor und blickte mich verstohlen um. Keine fremden Blicke in Sicht. Ich legte los und begann damit, die blauen Flecken rund um mein rechtes Auge zu überschminken. Das war schmerzhaft, doch ich wollte nicht auffallen. Ich wollte Fragen aus dem Weg gehen und hatte Angst. Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte. Ich wusste, dass, wenn ich diesen Weg durchziehen würde, dann würde das passieren. Hastig packte ich meine Schminksachen zurück und begab mich wieder auf die Autobahn.

Ich dachte an die letzten Tage zu Hause. Wie ich immer wieder, wenn er nicht zu Hause war, in die Garage lief, und Stück für Stück, Teil für Teil meine Sporttasche packte. Nur das Notwendigste. Die beste Tarnung in diesem Fall war, sie nicht zu verstecken, ich hatte zwischen all unseren Sporttaschen, die in einem Regal in der Garage lagen, einfach eine ausgewählt und begonnen, sie zu füllen. Im Karton mit der Weihnachtsdeko im Keller hatte ich ein zweites Handy. Eine zweite Nummer. Hierüber kommunizierte ich in letzter Zeit immer häufiger mit Heiko und Mareike. Mareike, meine beste Freundin, meine Arbeitskollegin. Die Person, die mir eines Vormittags mein Zweithandy vorbeigebracht hatte, nachdem ich in einem Geschäftsmeeting mit ihr, endlich nach Wochen, gefangen in der Hölle meiner eigenen vier Wände, den Mut gefunden hatte, kurz meine Webcam einzuschalten. Ganz kurz nur. Den Ton auf stumm, während ich munter weiterredete, sie mich aber nur sehen konnte. Mich und mein grün und blau geschlagenes Gesicht. Mich und meine erhobene Hand, die sich zum Symbol des stummen Hilfeschreis formte. Und ich redete immer noch von Geschäftlichem, um für ihn den Anschein zu wahren, dass hier alles normal weiterläuft. Er sollte keine Chance haben, auch nur eine Sekunde stutzig zu werden. Sonst war ich diesen Job und meinen letzten Kontakt zur Außenwelt los. Sofort.

All die Jahre musste er bei dem, was er mir antat, darauf achten, dass es auf der Arbeit, bei Freunden und Familie nicht auffiel, wir eine stimmige Ausrede für meine Verletzungen hatten. Mit den anhaltenden Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und dem Lockdown spielte das alles keine Rolle mehr. Er sah mich den ganzen Tag, er hatte den ganzen Tag Zeit, mir die Schuld an allem zu geben, er nutzte den ganzen Tag dafür, mich bloßzustellen. Es eskalierte vollkommen. Es dauerte nur wenige Tage bis er mir das erste Mal ins Gesicht schlug. Doch das bemerkte niemand. Ich hatte keinen Grund, das Haus zu verlassen und wäre das sonst aufgefallen, so tat es das in dieser weltweiten Ausnahmesituation nicht.

Mir wurde schwindelig, während ich an diese Momente zurückdachte und mein Atem beschleunigte sich. Die Panik kam wieder hoch. Ich sah mich und ich sah ihn vor meinem inneren Auge, wie er mich anschrie. Ich ließ es einfach über mich ergehen. Ich dachte daran, wie er mir absichtlich ein Bein stellte. Wie er mir beim Laufen in die Kniekehlen trat, um mich zu Fall zu bringen. Mir wurde übel. Meine Hände zitterten. Der Schwindel nahm zu. Die nächste Abfahrt nutze ich. Ich konnte nicht mehr. Mir war speiübel. Was tat ich hier überhaupt? Wie um alles in der Welt war ich so naiv gewesen und hatte denken können ich hatte eine Chance ihm zu entkommen?

Wir waren verheiratet. Er würde mich finden. Egal wo. Er würde mich finden. Ich konnte nicht entkommen. Keine Chance. Wenn ich jetzt umdrehte, würde er mir das hier vielleicht noch verzeihen. Vielleicht konnte ich mich irgendwie rausreden. Den Schaden begrenzen. Ich konnte nicht richtig atmen. Ich hielt den Sicherheitsgurt mit der linken Hand etwas von meiner Brust weg.

„Hände an das Lenkrad!“

Aufruhr bei Engelchen und Teufelchen. Ich war auf irgendeiner Landstraße gelandet. Irgendwo im Nirgendwo. Der Schwindel nahm zu.

„Schau zu, dass du anhältst oder willst du gegen den nächsten Baum donnern?“, maulte das Teufelchen.

Ich gehorchte. Es folgte ein kleines Waldstück. Ich konnte rechts ranfahren und kam ruckartig und mit einem Sprung nach vorne zum Stehen.

„Beruhige dich. Es wird alles gut.“, das Engelchen hatte seine Stimme wiedergefunden. Doch es half kein Stück. Meine Hände zitterten extrem. Ich brauchte zwei Versuche, mich abzuschnallen. Ich stieg aus, ließ die Tür hinter mir offen, lief vorne um das Auto herum und in Richtung Gebüsch. Ich wusste nicht, ob ich mich übergeben musste. Mir war so unglaublich schlecht. In meinem Kopf drehte sich das Gedankenkarussell. Ich konnte das auf keinen Fall durchziehen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Wie naiv war ich. Ohne ihn würde ich nicht klarkommen, ich hatte keine Chance, was hatte ich mir nur vorgemacht. Ich schwankte zurück zum Auto. Hielt mich kurz fest. Schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete geräuschvoll ein und aus. Dann öffnete ich die Beifahrertür, suchte mein Handy und wählte Mareikes Nummer. Es klingelte nur einmal und schon war sie dran.

„Was ist los? Wo bist du?“, sie klang nervös.

„Ich kann das nicht. Oh Gott, ich kann das auf gar keinen Fall. Was mach ich hier? Ich mach doch alles nur noch schlimmer? Ich sollte umdrehen, denkst du nicht, dass ich umdrehen sollte?“

„Okay atmete tief durch. Beruhige dich. Wo genau bist du?“

„Auf irgendeiner Landstraße…Ich… ich hab keine Ahnung wo genau…ich.“, ich schnappte nach Luft, meine Stimme wurde brüchig.

„Es wird alles gut. Versuch dich zu beruhigen. Wir haben über alles gesprochen. Du fährst zu Heiko, ich komme nach, sobald hier alles mit deinen Eltern geklärt ist. Du tust das Richtige. Hörst du? Du tust das Richtige.“

Ich merkte, wie sich mein Atem etwas verlangsamte. Mareike hatte recht. Wir hatten alles bis ins letzte Detail geplant. Ich tauchte erst einmal bei Heiko ab. Sie erklärte meinen Eltern nur das Notwendigste, da ich nicht einfach so verschwinden konnte. Ich hatte ihr Auto. Sie würde, sobald es die Arbeit zulassen würde, nachkommen und es abholen. Mit mir alles weitere planen. Bei Heiko würde ich erst einmal in Sicherheit sein. Ich kannte ihn seit vielen Jahren. Ich hatte heimlich zu ihm Kontakt aufgenommen, nachdem mein Mann mir diesen schon vor Jahren verboten hatte. Ich hatte so viel auf mich genommen, um das hier zu schaffen, um so weit zu kommen. Abend für Abend, die er bei seinem Kumpel verbracht hatte, war ich die Treppen auf und ab gelaufen, um mir einzuprägen, welche Stufen knarzten, welche nicht. Welche Punkte völlig geräuschlos sind, welche nicht. Die letzten Nächte lag ich vollkommen wach. Ich telefonierte noch einige Minuten mit Mareike, bevor sie mich soweit beruhigt hatte, dass ich weiterfahren konnte. Ich versuchte, mutig zu sein und meine Fragen von vorhin zu streichen. Wie viel würde ich denn noch ertragen können?

Wie viel würde ich noch überleben können?

Ich entschied mich, weiter zu fahren. Entschied mich für den Weg hinaus aus der Hölle. Entschied mich für das Leben.

*

© 2022 Franziska Rohrmoser
Alle Rechte vorbehalten