Zersplitternde Zeit

Von Johannes Morschl

1

Ein Sonntagvormittag im April 2022. K. stellte sich vor den großen Spiegel im Flur seiner Wohnung. Er bekam einen Schreck, als er sich im Spiegel nicht sehen konnte. Er rüttelte an dem Spiegel, aber sein Spiegelbild wollte nicht erscheinen. Er drehte den Spiegel um, ob sein Spiegelbild vielleicht hinten herausgefallen wäre, aber da befand es sich auch nicht. Er drehte den Spiegel wieder zurück, und siehe da, es erschienen langsam wie auf einem PC-Bildschirm mit schwacher Internet-Verbindung ein paar verschwommene Bruchstücke seines Spiegelbilds, ein paar Büschel vom Kopfhaar, ein halbes linkes Ohr, ein rechtes Auge, aber ohne Pupille, darüber schattenhaft eine Augenbraue, ganz blass eine Nasenspitze, und wie ein rötlicher Fleck die Form eines Mundes. Er rüttelte nochmals am Spiegel, diesmal kräftiger als das erste Mal, doch da purzelten die erschienenen Bruchstücke seines Spiegelbilds durcheinander und verschwanden wieder. Er war verwirrt. Er überlegte, zwischen sich und dem Spiegel ein Schild mit der Aufschrift „Achtung! Persönlichkeitsgrenze!“ aufzustellen, denn was sich der Spiegel da erlaubte, war eindeutig eine Überschreitung der Persönlichkeitsgrenze. Ein Spiegel hatte Spiegel zu sein, wie es sich für einen normalen Spiegel gehörte, und nichts anderes. Ein Spiegel durfte nicht je nach Lust und Laune entweder gar nichts oder nur Bruchstückhaftes widerspiegeln. Das war eine unerhörte Frechheit, was sich der Spiegel da erlaubte! K. wurde immer wütender auf den Spiegel. Er zog sich die Hose und Unterhose runter und zeigt dem Spiegel seinen nackten Arsch. Dann drehte er den Kopf zum Spiegel und siehe da, sein nackter Arsch blickte ihm aus dem Spiegel entgegen, aber nicht bloß bruchstückhaft oder schattenhaft, sondern klar und deutlich sichtbar. „Aha, das macht er also“, dachte sich K. „Er zeigt mir den Arsch, dieser freche Hund! Na, dem werde ich es zeigen!“ Wutentbrannt zog er sich die Unterhose und Hose wieder hoch und ging schnurstracks zu seiner Abstellkammer, in der sich zwischen anderem Zeug sein Werkzeugkasten befand. Er holte einen Hammer aus dem Werkzeugkasten, ging zum Spiegel zurück und schlug ihn mit dem Hammer in Stücke. Doch kaum war der Spiegel in viele Glassplitter zersprungen, war K. wie vom Erdboden verschluckt. Man konnte aber noch Teile von ihm in den Glassplittern gespiegelt sehen. Der Fußboden war mit Blut bespritzt, so als wäre hier ein schreckliches Unheil geschehen.

2

Aus einem offenen Fenster vom Haus gegenüber hörte man ein Lied von Leonard Cohen, – „Like a bird on the wire / Like a drunk in a midnight choir / I have tried in my way to be free…“ Offenbar lebte dort eine Frau oder ein Mann, – höchstwahrscheinlich älteren Semesters -, die oder der noch immer Lieder von Leonard Cohen hörte. Auf dem Bürgersteig unter dem Fenster ging eine junge Frau mit einem Kinderwagen vorbei, in dem ein kleines Mädchen saß, das verträumt in die Welt guckte. Der Himmel über den Dächern war strahlend blau. In der Ferne tobte ein Krieg, der immer näher zu kommen drohte und sich immer stärker in die Gemüter der hier noch in Frieden und Sicherheit Lebenden fraß. Das kleine Mädchen war davon unberührt. Es lebte in seiner eigenen magischen Welt, in der sein Teddybär und seine Puppe sprechen konnten. Es fühlte sich sicher und geborgen bei Mama und Papa.

3

In weiter Ferne saß ein kleiner Mann mit teigigem Gesicht in einem Saal an einem großen Tisch. Er war über ein Schachbrett gebeugt und grübelte über eine Schachposition aus einem Spiel zweier Schach-Großmeister, einem Russen und einem Ukrainer, das nicht zu Ende gespielt werden konnte, da der russische Großmeister an einem plötzlichen Schlaganfall gestorben war. Der Verstorbene hatte mit den weißen Figuren gespielt. Der kleine Mann mit dem teigigen Gesicht, der mit dem Verstorbenen befreundet gewesen war, versuchte an dessen Stelle Schwarz Schach matt zu setzen. Er grübelte und grübelte, wie er dies bewerkstelligen könnte. Weiß war zwar von der Anzahl der Figuren her überlegen, aber Schwarz hatte eine verdammt starke Verteidigungsposition. Eigentlich wäre ein Remis angesagt. Aber in seinem maßlosen Ehrgeiz hätte sich der kleine Mann mit einem Remis nie und nimmer zufrieden gegeben. Da hätte er lieber alle Figuren vom Schachbrett gefegt. Der kleine Mann erhob sich und trat vor einen riesigen Spiegel mit Goldrahmen, der an einer Wand des Saals hing. Er trat innerlich mit seinem großen Vorbild, den Generalissimus mit dem Schnauzbart in Verbindung, der einst über Russland geherrscht hatte. Da geschah plötzlich etwas Ungeheuerliches! Mit einem höllisch lauten Knall zersplitterte der riesige Spiegel! Die Figuren auf dem Schachbrett fielen wild durcheinander um. Der kleine Mann ging vor Schreck unter dem großen Tisch in Deckung. Als er wieder hervorkam, erblickte er auf dem Schachbrett einen schwarzen Bauer, der als einzige Figur nicht umgefallen war. Der kleine Mann wurde wütend und wollte den schwarzen Bauer gegen die Wand werfen, doch dieser ließ sich nicht bewegen, so als hätte er im Schachbrett Wurzeln geschlagen…

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© 2022 Johannes Morschl
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