Von Lena Kelm
Sommer 1994. Täglich besuchte ich nach der Arbeit meine Mutter in der Charité. Als ich wie immer und wie es sich gehört auch ihre Zimmernachbarin begrüßte, sagte sie: „Sie kommen jeden Tag bei dieser Hitze, Sie haben bestimmt eine gute Mutter! – „Oh ja, meine weise Mutter erzog mich mit Sprichwörtern, gesammelten Lebenserfahrungen. Ich habe sie immer im Ohr“, erklärte ich. – „Welche denn?“, fragte die Frau interessiert. „Fast zu jeder Lebenssituation taucht in meinem Gedächtnis ein passendes Sprichwort auf, beispielsweise: Morgenstund‘ hat Gold im Mund, wer die verschläft, der geht zu Grund’ – Nach getaner Arbeit ist gut ruhen. – Der Klügere gibt nach. – Wer das Kleine nicht ehrt, ist das Große nicht wert. – Wussten Sie, dass es den Pfennig in Wolhynien, wohin meine Urgroßeltern aus Deutschland aussiedelten, nicht gab? Man meinte statt Geld kleine und große Werte. Ich bin stolz auf meine Mutter, die mir diese Tugenden beigebracht hat.“ – „So möchte ich aber nicht erzogen werden“, erwiderte die Frau. Ich war sprachlos und fand keine passende Antwort, doch meine Mutter, die trotz ihrer Schwerhörigkeit, alles verstanden hatte, fragte aufgebracht: „Habe ich dich denn schlecht erzogen?“ – „Aber nein, Mutter, das stimmt nicht, und du weißt das!“ Die Frau verlor das Interesse und widmete sich einer Zeitschrift.
Als ich die Charité verließ, beschäftigte mich die Meinung der Zimmernachbarin, einer Berlinerin, immer noch. Ich konnte ihre Einstellung nicht nachvollziehen. Auf dem Weg zur U-Bahn kam ich an einer kleinen Passage mit einem Zeitungkiosk vorüber, Ständer mit Karten voller Sprüche waren einladend nahe der Fußgängerzone platziert. Von Karten mit Sprüchen konnte ich nie genug bekommen. Ich konnte auch an diesen nicht vorbei gehen. Mir fiel eine Überschrift ins Auge: „Berliner Sprüche.“ Mein Sammlerleidenschaft war geweckt. „Der Klügere gibt so lange nach, bis er der Doofste ist“ stand auf der Karte schwarz auf weiß! Das konnte kein Zufall sein, das war eine Fügung des Schicksals. Mir wurde blitzartig klar, was die Berlinerin gemeint hatte. Und ich fragte mich, bin ich denn wirklich doof gewesen in den hinter mir liegenden vierzig Jahren? So fühlte ich mich aber nie, vielleicht bereute ich meine Kompromissbereitschaft ab und zu. Wenn ich das Gefühl hatte, jemand hielt mich für doof, hörte mein Verständnis auf. Und ich finde, von jemandem mal für doof gehalten zu werden, ist nicht so schlimm, schlimmer ist, doof zu handeln, sich doof anzustellen.
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© 2022 Lena Kelm
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