Die Aare hat das Wort

Von Hans Peter Flückiger

Blass scheint die Sonne durch die Fenster des Konzertsaals in Solothurn. Es ist noch nicht gewiss, ob sie sich an diesem Novembersamstag letztlich gegen den Nebel durchzusetzen vermag oder dieser ihr nur einen kurzen Blick auf das 16 000-Seelenstädtchen erlaubt. Auch im Saal ist eine Frage noch nicht endgültig beantwortet. Auf der mit Fahnen und Blumen geschmückten Bühne erhebt sich eine dunkelhaarige Mittvierzigerin in einem marineblauen Hosenanzug und tritt ans Rednerpult. Sie nippt an einem Glas Wasser, räuspert sich und beginnt zu sprechen:

«Liebe Parteifreundinnen, liebe Parteifreunde,
beim folgenden Tagesordnungspunkt haben wir einen wegweisenden Entscheid zu fällen. Es geht darum, ob wir an der nächsten schweizerischen Volksabstimmung die Initiative zum Schutz unserer Gewässer ablehnen oder ihr zustimmen wollen. Um uns einen umfassenden Überblick zu verschaffen …» die Vorsitzende streckt als Willkommensgeste ihre beiden Arme aus «… haben wir eine uns allen bekannte Rednerin eingeladen. Begrüssen sie herzlich – die Aare.»

Zweifel, Unruhe aber auch Heiterkeit machen sich im Saal breit. Aber tatsächlich, da steht sie am Mikrofon. Erste applaudieren, bald sind es alle. Viele erheben sich dazu.

Die Referentin hebt ihre Hände über den Kopf, faltet diese zur Begrüssung und lächelt. Sie ergreift das Wort: «Liebe Frau Vorsitzende, geschätzte Damen und Herren …» Ruhe kehrt ein. Sie spricht weiter: «… als Erstes möchte ich mich herzlich für Ihre freundliche Einladung bedanken und Ihnen zur Idee gratulieren, mich als Referentin einzuladen. Ich denke, es ist erstmalig, dass nicht nur Fachleute und Besorgte zu Wort kommen, sondern dieses mir als einer Direktbetroffenen erteilt wird.»

Sie ordnet ihre Notizen und blickt zum Publikum: «Ich denke, als erstes spreche ich über meinem Namen. Seit Menschengedenken heisse ich Aare. Wieso dem so ist – darüber kann man räsonieren.»

Interessiert schauen ihr über 500 Augenpaare entgegen.

«Sicher ist, dass die Kelten anfingen, den Gewässern Namen zu geben. Mit Respekt, um die darin hausenden Gottheiten nicht zu verärgern. Beim Anblick und Erleben der mir innewohnenden Kraft wurden sie an einen Adler erinnert. Ich wurde zu Arura, der Adlersgleichen. Für diese These spricht, dass an mir gelegene und nach mir benannte Orte wie Aarau, Aarburg oder Aarberg einen Adler in ihrem Wappen tragen. Aber es gibt auch eine profanere Erklärung.» Sie sagt es mit gespieltem Bedauern. «Mein Name kann seinen Ursprung auch im althochdeutschen Begriff „Ahha“ haben, was einfach Wasser bedeutet. Nicht mehr, nicht weniger. Mir gefällt These eins besser.»

Vereinzelte zucken mit den Schultern. Die Meisten nicken ihr zustimmend zu.

«Kommen wir zu meinem Ursprung. Ich lasse es da aber bei meiner persönlichen Herkunft bewenden. Wollte ich noch auf meine Altvorderen eingehen, würde das den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen. Ich denke da an die Ur-Ur-Aare welche vor 60 Millionen Jahren mit dem Beginn der Erdneuzeit zu fliessen begann. Und auch zu ihrer Tochter, der Ur-Aare, sage ich nichts.»

Eine Vogelschauansicht des Gotthardmassivs wird auf eine Leinwand projiziert. Mit einem Laserpointer zirkelt die Referentin einen wackligen Kreis auf die Leinwand.

«Im Umkreis von knapp zwanzig Kilometern nehme ich in der gefühlten Mitte der Schweiz wie meine drei Geschwister, der Rhein, die Rhône und der Tessin meinen Anfang. In der Höhe von 2300 Metern erwache ich beim Abfluss des Oberaargletschers zum Leben. Was mir im Zusammenhang mit dem Klimawandel schon Kopfzerbrechen bereitet. Bin ich durch das stetige Abschmelzen der Gletscher in meiner Existenz bedroht?»

Sie schaut sich erneut um. Diesmal zucken sozusagen alle nicht wissend mit den Schultern.

«Gut, solange es weiterhin regelmässig schneit …» macht sie sich Hoffnung, «aber um eine Abmagerungskur werde ich wohl nicht herumkommen. Wie auch immer … Heute stürze ich noch donnernd Schritt für Schritt 1700 Meter ins Tal. Wohl deshalb hat der französischsprachige Schriftsteller Maurice Chappaz in einem Buch geschrieben, L’Aar est la force, zu Deutsch, die Aare ist die Kraft. Diese machen sie Menschen euch auch zunutze. Hinter turmhohen Staumauern werde ich gefangen gehalten und, um meiner Kraft habhaft zu werden, durch Turbinen gejagt. Was meist keine einmalige Sache ist. Wenn es ein Überangebot an Energie gibt, werde ich mit diesem Billigstrom durch Leitungen und Schächte wieder zurück in Speicherseen hochgepumpt und bei Bedarf, sprich, wenn der Strom knapp und teuer ist, wieder durch die Anlagen getrieben. Was sich zwei, drei, ja x-Mal wiederholen kann.»

«Das ist halt der Lauf der Dinge», meldet sich einer aus dem Saal.

«Anscheinend», sagt die Aare, «eines müssen sie aber wissen. Ein Vergnügen ist dieses Rundherum nicht. Im Tal angekommen, ist das Schlimmste vorweg aber mal überstanden. In meinen Anfängen stellte sich mir talauswärts ein Kalksteinriegel in die Quere. Durch diesen musste ich mich durchbuddeln.» Wie sie den Schweiss wegwischen würde, streicht sie sich mit dem Rücken der linken Hand über die Stirn. «Heute geht es dort beschwingt durch die an der engsten Stelle nur einen Meter breite, aber bis zu 180 Meter hohe …» ein neues Bild erscheint «… Aareschlucht. Seit bald 150 Jahren beobachtet durch Heerscharen von Touristen, welche sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollen.

Nach eineinhalb Kilometern verlasse ich den düsteren Schlund. Jetzt geht es relaxt weiter und ich bekomme dabei Gesellschaft. Von den Hängen des Haslitals suchen links und rechts kleinere und grössere Bäche über Wände und Flühe einen Weg ins Tal und begeben sich in meine Obhut. Im Brienzersee ist ein erstes Verweilen möglich. Zusammen mit dem folgenden Thunersee bildet er das Überbleibsel des zum Ende der letzten Eiszeit entstandenen, riesigen Wendelsees.

Zu der Zeit reiste ich mit „grossem Gepäck“. In Massen nahm ich Geschiebe mit und schüttete Landmassen auf. Was über die Jahrtausende dazu führte, dass der Wendelsee zu den beiden heutigen „Pfützen“ wurde. Am Westende des Brienzersees sorgte das zur Entstehung einer bewohnbaren Fläche. Auf dieser siedelten als erste Mönche. Mit diesen hatte ich stets Konflikte. Sie wehrten sich gegen meine Besitznahme ihrer Ländereien und nannten dies Überschwemmung.

Je erfolgreicher sie im Kampf gegen diese waren, desto misslicher wurde die Lage für die weiter oben im Tal lebenden Menschen. Deren Land versumpfte. Ihr Unmut wuchs und wuchs und gipfelte 1433 in einem gewaltsamen Aufstand. Sogenannte Abhilfe gab es aber erst 400 Jahre später. Auf meinem Buckel. Von der Aareschlucht bis zum Brienzersee wurde ich – beschönigend gesagt – kanalisiert. Ja, in ein steinernes Korsett gezwängt. Wie an anderen Orten auch. Mit einem Verbund solcher Massnahmen wurde mir gewaltsam der Weg gewiesen.»

Ein Zuhörer reckt die rechte Hand in die Höhe.

«Ja bitte.»

«Das haben sie sich selbst zuzuschreiben. Diese für uns Menschen lebensbedrohenden Überschwemmungen waren die Folge, weil sie beim Eintritt ins flachere Gelände nicht in der Lage waren, das mitgebrachte» – er sagt es abschätzig – «„Zeug“ weiter zu transportieren.»

«Da haben sie recht. Das ist schon ein Interessenkonflikt. Einerseits meine Drang, mich möglichst mäandrierend fortzubewegen, und ihr Bedürfnis, eine verlässliche Lebensgrundlage zu haben. Und ihr seid ja auch lernfähig.» Die Aare schmunzelt. «Sie wenden heute ja viel Geld auf, mir durch Renaturierungen wieder mehr Auslauf zu gewähren.»

«Zudem sind sie privilegiert, nicht – wie andere Wasserstrassen – auch noch als Lastesel dienen zu müssen.»

«Bedingt, bedingt», widerspricht die Aare. «Zu gewissen Zeiten war ich das schon. Ich möchte zu bedenken geben, noch 1825 benutzten mich beispielsweise über 6000 Fahrgäste, um per Schiff von Thun nach Bern zu gelangen. Dazu transportierte ich über 100 000 Zentner Waren. Aber es stimmt, Pläne, mich zu einer Wasserstrasse – welche ein Wort – zu machen, scheiterten am Geld. Heute tuckern auf mir zwischen Biel und Solothurn nur noch Touristen hier und her.»

Sie zeigt zwei weitere Fotos. Ein aktuelle Ansicht von Solothurn mit der St. Ursenkathedrale und eine Zeichnung, wie das Castrum Solodurum vor 2000 Jahren ausgesehen haben soll.

«Apropos Solothurn» sagt sie, «da werden ja köstliche Anekdoten erzählt. Wie diese der beiden zu Schutzpatronen der Stadt gewordenen thebäischen Legionäre Urs und Viktor. Wegen ihrem christlichen Glauben wurden sie durch den römischen Statthalter enthauptet und in mich geworfen. Nach einigen Hundert Metern traten sie ans Ufer. Mit den Köpfen unter den Armen, um sich in ihre Gräber zu legen.»

«Nicht zu vergessen ist Heilige Verena », ergänzt eine Zuhörerin.

«Oh ja, die Verena, die Verlobte von Viktor. Das wäre auch eine abendfüllende Geschichte. Was mich betrifft, ich hatte eine nur Begegnung mit ihr. Auf einem zentnerschweren Mühlstein sitzend, ritt sie auf mir nach Zurzach.»

«Dorthin, wo sie sich nicht weit entfernt in den Rhein ergiessen?»

«Richtig, und auf diesen Sachverhalt möchte ich zum Schluss noch zu reden kommen. Seit Jahrhunderten treffe ich dort mit dem Rhein zusammen und werde ein Teil von diesem. Der Punkt ist aber …» die Aare nimmt einen tiefen Atemzug, «ich bin grösser und wasserreicherer als Rhein. Wieso wird dann nicht er ein Teil von mir? Ich habe mehr als einen Verdacht.» Die Aare wird energisch. «Es kann anscheinend nicht sein, dass der (männliche) Rhein Teil der (weiblichen) Aare wird und in dieser endet. Das ist diskriminierend. Ich fordere, diesen Missstand zu beheben und dafür zu sorgen, dass künftig ich in den Niederlanden in die Nordsee fliesse.»

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© 2022 Hans Peter Flückiger
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