Von Johannes Morschl
1
Wie viele Menschen werden tagtäglich gewaltsam aus dem Leben gerissen?, fragte sich Kalle. Er sah die gefallenen Soldaten sämtlicher Kriegsparteien und die im Krieg von feindlichen Soldaten ermordeten oder durch Bomben- und Raketenangriffe getöteten Zivilisten in schier endlos langen Reihen auf einem schier endlos großen Feld liegen, das von aasfressenden Vögeln wie Kolkraben (corvus corax) und Aaskrähen (corvus corone) bevölkert war.
Alles versank in Kalle, auch die Erinnerung an den Wald, in den er sich einst ein halbes Jahr lang zurückgezogen hatte und wo er Gespräche mit Waldameisen geführt hatte, denen seine isolierte Existenz vollkommen unnatürlich und absurd vorgekommen war. Schon allein, dass er nur auf zwei Beinen lief, war geradezu grotesk für sie. Er hatte geglaubt, in seinen Gesprächen mit den Waldameisen herausgehört zu haben, dass sie sich über ihn lustig machten, ja er hatte sich eingebildet, die Waldameisen bepfiffen sich vor Lachen über ihn.
Er begann innerlich zu frieren. Er sagte sich: In was für ein Tollhaus bin ich da geraten? Aber ich wurde ja nicht gefragt. Man wird ungefragt in dieses Tollhaus geworfen. Es gibt kein Zurück mehr in die Geborgenheit im warmen Mutterleib, aus dem man plötzlich herausgepresst wurde und schwuppdiwupp in einer riesigen, grell beleuchteten Welt gelandet ist. Von diesem Schock erholt man sich sein Leben lang nicht mehr.
Ihn bedrückten die Menschen, zu deren Spezies er gehörte. Er hatte sich seit seiner Jugendzeit nach innen zurückgezogen, – frühzeitige innere Emigration. Nach außen hin schien er auf den ersten Blick eine recht stabile Gestalt zu sein. Nur an seinem zu einer Maske erstarrten Gesicht, an seinem misstrauischen Blick und an seiner andauernden Besserwisserei konnte man erahnen, dass er von inneren Monstern aus seiner Herkunftsfamilie bevölkert war und jederzeit seelisch zusammenbrechen oder wahnsinnig werden konnte.
Er fand sich als Maskierter unter unzählig vielen anderen Maskierten wieder. Alles um ihn herum war Maskerade und er selbst war Teil dieser Maskerade, wobei ihm dies nicht bewusst war, da er nichts anderes kannte. Er kannte nur eine Welt von Maskierten, von Masken. Ich bin Maske, also bin ich, hätte er über sich sagen können. Zudem hatte die Kälte von außen, die von Geburt an in ihn eingedrungen war, einen emotionalen Eiszapfen aus ihm gemacht. Immer, wenn man ihm begegnete, hatte man das Gefühl, einem emotionalen Eiszapfen zu begegnen.
2
Doch eines Tages war Kalle wie über Nacht verwandelt. War dies die Wirkung des Haschischs, das er vor dem Einschlafen geraucht hatte? Er dachte, der Konsum von Cannabis sollte endlich legalisiert werden. Es sei geradezu rassistisch, dass man sich zwar tot saufen darf, aber nicht dieses inspirierend wirkende Haschisch rauchen darf, das aus Nepal, Marokko, der Türkei, Afghanistan oder dem Libanon kommt. Dann begann er in Gedanken zu schwärmen. Roter Libanese, das war eindeutig seine Lieblingssorte. Ein wohliges, heiteres Gefühl durchströmt den Körper. Man schwebt geistig davon, wird allerdings gleichzeitig körperlich etwas träge. Letzteres hatte ihn jedoch noch nie gestört. Er war ohnehin nicht der Agilste.
Doch wann kommt endlich eine Frau ins Spiel, die Schöne, die als Kontrastprogramm zu so einem starren, steifen Biest wie ihm dazugehört?, wird man sich fragen. – Ha, Kalle und ein Biest! Vollkommen ungeeignet für diese romantische Rolle, in der sich das Biest als verwunschener Prinz entpuppt! Oder als verwunschener Strohhalm? Quatsch! Prinz oder Strohhalm, das ist doch keine Alternative oder gar ein Synonym! Der Prinz ist eher feist, hat eine rosige Haut und riecht aufdringlich dezent modrig, während der Strohhalm kaum einen Eigengeruch hat und vom Wind hin und her gebogen wird.
…
Jetzt schwadroniere hier nicht sinnlos herum, sondern komm endlich zu einer klaren Struktur, zu einer logisch nachvollziehbaren Geschichte, auch wenn ihr Ende ein Sprung vom Dach eines Hochhauses ist, sagt sich der Autor dieser offensichtlich auf eine ihm bekannte Person, die er Kalle nennt, bezogenen Story. Handelt es sich bei dieser Person möglicherweise um den Autor selbst?, könnte man sich als Leserin oder Leser fragen. Dazu fällt dem Autor dieser Story ein Refrain aus einem Lied von Bob Dylan ein: The answer my friend is blowin‘ in the wind / The answer is blowin‘ in the wind.
3
Da erschien plötzlich sie, die Schöne, das Kontrastprogramm zum Biest. Ihre grüne Frisur sah so aus, als bestünde sie aus einem Dickicht von Hanfblättern. Und sie roch auch nach Hanf. Zudem konnte man, wenn man an ihrer Haut schnupperte, den Hauch des Geruchs von Limetten wahrnehmen. Das Leuchten ihrer Blicke durchdrang jede Vernebelung, – nein, man konnte ihr nichts vormachen. Dies wurde ihren Geliebten mit der Zeit unheimlich und sie zogen sich von ihr zurück, ohne jedoch innerlich von ihr loszukommen. Neue Partnerinnen erschienen ihnen danach immer nur zweite Wahl zu sein, und so war in ihren neuen Beziehungen von Anfang an der Wurm drin, wobei Wurm auf Penis hindeutet, auf diesen eher unzuverlässigen Gesellen, der mal steht und mal schlaff in der Gegend herumhängt, oder der in der Gegend frei herum flottiert.
Kalle kam dabei sofort der Gedanke: Ist es nicht so, dass die Männer die Frauen nur unglücklich machen? – Nein, bei ihm zumindest war es anders, da war meistens er der Verlassene, der Unglückliche. Er litt immer Höllenqualen, wenn er von einer Frau verlassen wurde. Aber hat er sich deshalb umgebracht? Nein, obwohl er manchmal schon sehr nah dran war. Aber ganz so tief unten war er dann doch noch nicht. – Obwohl, da fiel ihm ein, dass Heinrich von Kleist und Henriette Vogel kurz vor ihrem Freitod durchaus nicht tief unten, sondern himmelhochjauchzend oben waren. Ausgelassen wie Kinder hüpften sie in der Landschaft herum und spielten Fangen. Sie schienen sich auf ihren Freitod gefreut zu haben, wobei es nicht ganz korrekt ist, von einem gemeinsamen Freitod zu sprechen, denn Kleist erschoss mit seiner Pistole zuerst Henriette und dann sich selbst. So war es zwischen ihnen verabredet.
Bei Kleist, der vermutlich schwul war, gab es offenbar die magische Vorstellung, sich nur im Tod mit einer geliebten Freundin vereinen zu können. Und die mit einem Langweiler verheiratete Henriette Vogel war bereit, mit ihrem geliebten Heinrich aus dem Leben zu gehen, zumal sie auch unheilbar an einem Gebärmutterkrebs erkrankt war und einem längeren Dahinsiechen mit zunehmendem körperlichen Verfall entgehen wollte. Mord und Selbstmord waren der absolute Höhepunkt der bis dahin nicht sexuellen Beziehung von Kleist und Henriette Vogel. Mord und Selbstmord ersetzten ihnen sozusagen den Sex, beziehungsweise war diese Vereinigung im Tod so etwas wie ihr Sex, wie ihre Hochzeitsnacht, die sich allerdings bei helllichtem Tag am Ufer des Kleinen Wannsees bei Potsdam abspielte.
Oh nein, nicht schon wieder diese ollen Kamellen, dieser olle Schmachtfetzen von Liebe und Tod! Und im Hintergrund hört man noch dazu andauernd die Heil Hermann!-Rufe der nach einem Führer Süchtigen aus Kleists mit Abstand schlechtestem Drama Die Hermannsschlacht. Da kommt einem ja das übelste Kotzen, dachte Kalle. Da wird man automatisch an das Heil Hitler!-Gebrüll erinnert. Der Metzger ruft, die Reihen fest geschlossen… Und falls diesen im Gleichschritt in Richtung Untergang Marschierenden plötzlich Aphrodite alias Venus begegnen sollte, bekämen sie einen gewaltigen Schreck. Nun könnte es ernst werden mit dem Sex mit einer Frau. Sie würden automatisch an ihre Pimmel denken: Hoffentlich blamiert er mich nicht wieder! Und ist er nicht etwas zu klein geraten? Eine Aphrodite alias Venus würde womöglich gar nicht merken, dass da etwas in sie eingedrungen ist. Es gibt da aber auch die Größenwahnsinnigen, die sich einbilden, ihr Pimmel sei der Größte, und dies völlig unabhängig von seiner tatsächlichen Größe. Diese Einbildung kommt ihnen nicht selten zu völlig unpassenden Anlässen wie zum Beispiel bei einem Begräbnis, bei dem sie völlig unpassender Weise eine Erektion bekommen. Man geht jedoch nicht jeden Tag zu einem Begräbnis, bei dem man angesichts der Tränen der Trauergemeinde völlig unpassender Weise einen Steifen bekommt und deshalb hart mit sich ins Gericht geht: Das ist aber jetzt absolut unpassend! Wenn das die Trauernden wüssten! Mit Trauernden ist nicht zu spaßen, die können zu Bestien werden, selbst wenn ihre Trauer nur geheuchelt ist, dachte Kalle.
4
Kalle stand wieder einmal im Abseits. Eigentlich stand er schon von Geburt an im Abseits. – Wer steht da im Abseits? Er oder nur sein Pimmel?, wird man sich fragen. Dies ist in seinem Fall schwer zu beantworten. Ich bin Pimmel, also bin ich, oder so ähnlich hat einst ein berühmter Philosoph gesagt. War es Descartes? Quatsch! Der hat gesagt: Cogito ergo sum, ich denke, also bin ich. Das ist etwas völlig anderes. Ein Pimmel denkt nicht, er spricht auch nicht, er hängt oder steht nur still und stumm in der Welt herum. Im Abseits steht er nur, wenn sein Besitzer im Abseits steht. Er steht dann gemeinsam mit seinem Besitzer im Abseits. Es ist aber durchaus nicht so, dass er immer das macht, was sein Besitzer von ihm will. Während zum Beispiel sein Besitzer will, dass er jetzt sofort anschwellen soll, hängt er davon völlig unbeeindruckt schlaff und faul zwischen den Beinen seines Besitzers herum, so als wolle er zu ihm sagen: Du kannst mich mal.
Dann stellte Kalle sich vor, dass plötzlich russische Raketen in Berlin einschlugen, ein russischer Racheakt wegen der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. – Nein, gleich wieder weg von dieser Vorstellung!, dachte er. Man will ja nicht in eine Situation geraten, in der man den Drang verspürt, ein Kriegstagebuch zu schreiben. Etwa so: Die Alarmsirenen heulen schon wieder. Ganze Stadtteile bestehen nur noch aus Ruinen. Man bekommt kaum noch etwas zu essen. Ich sitze im Keller und brate mir eine Ratte, die ich gefangen habe. – Wie eklig!, wird man jetzt sagen. Aber das ist ein Vorurteil. In Kambodscha zum Beispiel gilt gebratenes Rattenfleisch als Delikatesse. – Meine Nachbarn im Keller haben sich ein paar Käfer geröstet. Keine Ahnung, wie sie an die gekommen sind. Gierig gucken sie auf meine Ratte. Um des nachbarschaftlichen Friedens im Keller willen werde ich ihnen ein Stück von meiner gebratenen Ratte abgeben. Vielleicht geben sie mir dann ein paar von ihren gerösteten Käfern ab. Die sollen ja sehr vitaminreich sein…
*
© 2022 Johannes Morschl
Alle Rechte vorbehalten
Mai 30 2022