Roman mit Todesfolge – Leseprobe

Von Michael Kothe

Kapitel 2

Wer ist Valentina Nightingale?
Er wusste es, schließlich räkelte sie sich vor ihm auf der Couch. Achtlos hingeworfen lag ihr eleganter Hosenanzug, in dem sie eben noch ihrem Publikum gegenübersaß, auf seinem Seidenteppich. Daneben bedeckte ihre Bluse ihre hochhackigen Schuhe und seine eigenen Treter nur zum Teil. Er selbst stand mit entblößtem Oberkörper halb über die Schönheit gebeugt. Immer noch betörte ihn das Parfum, dessen Duft nach Jasmin und Orangenblüten von ihrem Bralette in seiner Hand aufstieg, einem Nichts aus Seide und Spitzen. Die Nightingale, seine Eroberung für diese Nacht! Während ihre Rechte an seiner Gürtelschnalle nestelte, furchten die Finger ihrer linken Hand durch die Haare auf seiner Brust. Die Berührung verursachte ihm einen wohligen Schauer. Als die Gürtelenden lose herabhingen, öffnete …
… er trunken vor Erwartung die Augen. Im Nu war der Schauer verflogen. Ungläubig blinzelte er sich in die Wirklichkeit zurück.
Fast liegend und versunken im Polster eines voluminösen Fernsehsessels versuchte er sich zurechtzufinden. Im Vergleich zum luxuriösen Ambiente seines Traumes empfand er die nüchterne, abgenutzte Büroeinrichtung aus altersgebräuntem Holz als krassen Gegensatz:
Ihm gegenüber ein wuchtiger Aktenschrank mit geschlossener Rollladenblende, zu seiner Rechten ein Schreibtisch, so niedrig, dass er sich auf den Stuhl davor hätte kauern müssen. Dahinter begrenzte seinen Blick eine deckenhohe hölzerne Blende von Wand zu Wand, in der Mitte unterbrochen durch eine Türe, in deren Milchglasfüllung er eingeätzte Zeichen entzifferte, die er aber nicht sofort wiedererkannte:

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Sein Blickfeld klarte umso mehr auf, je erfolgreicher er sich den Schlaf aus den Augen rieb. Vor dem zweiten und größeren Schreibtisch, den er endlich als seinen eigenen erkannte, schaukelte im breiten Chefsessel das genaue Gegenteil Valentinas, die Füße auf einem Aktenbock abgestützt.
»Was ist ein Nackenbeißer?« In übertriebener Rhetorik ließ die etwas füllige Anfangsfünfzigerin im Hahnentrittkostüm ihre rechte Hand einen Viertelkreis beschreiben. »Als ich der Fragestellerin den Begriff erklärte, musste ich nicht etwa schmunzeln, denn jeder Autorin und jeder Leserin von Liebesromanen ist die Bedeutung geläufig. Nein, ich lachte ihr die Antwort lauthals entgegen. Anfangs irritiert und fast beleidigt schlich sie nach der Autorenlesung zu mir nach vorn an den Tisch, an dem ich mein Publikum mit Autogrammen beglückte. Als sie mir mit der Bitte, es zu signieren, ihr Buch vorlegte, beugte sie sich weit zu mir herab. Wohl zu weit, denn unvermittelt brach sich erotisches Knistern Bahn. Gemeinsam verließen wir als letzte den Saal.
Der Abstecher in die Bar dauerte nicht lange. Bald fanden wir uns auf meiner Couch wieder, wo ich ihr nach einem von uns beiden genossenen erotischen Rollenspiel eine andere Bedeutung des Wortes Nackenbeißer klarmachte. Noch in derselben Nacht entsorgte ich ihre blutleere Leiche. Hoffentlich hat mich niemand dabei beobachtet!«
Mit dem dumpfen Schlag, der typisch ist für das Zuschlagen eines gebundenen Buches, holte ihn die Frau im Schreibtischsessel endgültig ins Hier und Jetzt zurück. Im Halbdunkel fiel der lichte Fleck der Schreibtischlampe nicht nur auf das Buch in ihren Händen, sondern ließ auch ihr Gesicht erkennen. Lachfältchen um die Mundwinkel deuteten ebenso wie das Grau im offen getragenen Haar auf einen humorvollen, weltoffenen und selbstbewussten Menschen hin. Nach der Heimkehr in die anonyme Wohnanlage hatte die Haberkorn ihm auszugsweise aus Valentina Nightingales Buch vorgelesen und eben das letzte Kapitel beendet.
Gähnend und mit einem müde hingewedelten Winken beendeten sie ihre lange Literaturnacht und begaben sich zur Bettruhe. Gotthilf Leberecht in seinem Schlafzimmer nebenan, Ursula Haberkorn zwei Etagen höher.

Kapitel 3

Ursula Haberkorn erschrak. Schon bereute sie, nach dem ersten Klingeln nicht gleich wieder gegangen zu sein. Den Vormittag hatte sie für ihren Einkauf nutzen wollen, war aber gerade einmal bis zum Lottokiosk gekommen. Die Tageszeitung hatte eins zwanzig gekostet, und die Titelseite und den Artikel auf Seite zwei musste sie ihrem Mieter unbedingt druckfrisch präsentieren.
Eine gefühlte Ewigkeit lang hatte er nicht geöffnet. Nach dem vierten Klingeln endlich stand er ihr in der Tür gegenüber. In einem grauen Kurzbademantel, unter dem die Beine eines gestreiften Baumwollpyjamas sich auf braunen Pantoffeln stauchten. Leberechts Hecheln fiel ihr genauso unangenehm auf wie der Schaum an seinen Mundwinkeln. Seine Rechte umklammerte den Bademantel unterhalb des Gürtels, sodass sie am liebsten umgekehrt wäre. Ihre Finger krallten sich in die Zeitung, sonst hätte sie sie fallen gelassen.
Leberecht schluckte. Es klang fast wie ein Aufstoßen.
»Kommen Sie doch rein, wenn es auch noch so früh ist! Nach der langen Nacht habe ich erst spät in den Schlaf gefunden. Guten Morgen erst mal! Konnte Sie nicht gleich begrüßen, musste erst die Zahnpasta runterschlucken.«
Nun erst bemerkte sie die Zahnbürste in seiner linken Hand. Die andere hielt wohl einen zu weiten Hosenbund in Zaum. Das reimte sie sich zusammen, als die Hand nach oben zuckte und die Schlafanzugbeine sich strafften. Ursula Haberkorn atmete auf.

»Kaffee?«
Zur Antwort nickte sie und folgte seiner einladenden Handbewegung durch ein breites Vorzimmer, das sich bis auf einen Garderobenständer und ein altmodisches Telefonbänkchen leer präsentierte. Mit nur drei Schritten durchmaß sie den Raum und trat durch die offen stehende Tür in der Holzwand. Die Tür mit der Milchglasscheibe, auf der sein Name zu lesen war, und dem Messingschild mit der Aufschrift ‚Privatdetektei‘ darunter. Den beiden Kinoplakaten in Schwarz-Weiß rechts und links schenkte sie keine Beachtung mehr, sie hatte sie schon so oft gesehen. Dahinter schwenkte sie nach rechts zu dem Schreibtischsessel, in dem sie am Vorabend aus dem Buch der Nightingale vorgelesen hatte. Sie sah Leberecht durch die Tür verschwinden, hinter der sich das Schlafzimmer befand. Als sie ihm das Zweizimmerappartement vermietete, hatte sie stolz auf ihren ‚guten Geschmack‘ hingewiesen, weshalb sie das Schlafzimmer in einem beigen Pastellton hatte streichen lassen. So spielten die Wände in einer ähnlichen Farbskala wie der neue Teppichboden und das Bad en Suite im Charme der Siebzigerjahre. Anfangs hatte sie ihm mit einer Klage gedroht, als er die Holzwand aufgestellt hatte. Sie beruhigte sich jedoch, als sie sah, dass die Konstruktion nur mit wenigen Schrauben und Dübeln befestigt war. Der Schreibtischsessel zeigte noch halb ins Zimmer, sodass sie es sich sofort bequem machte. Lange musste sie nicht warten. Sie hörte Leberecht rumoren, danach erschien er in seinem gewohnt lässigen Outfit. Offenbar besaß er nur Cordhosen, die aber vermutlich in allen erhältlichen Grau- und Brauntönen. Das Freizeithemd kaschierte, weil locker in den Hosenbund gestopft, seinen Bauchansatz, was sie recht sympathisch fand. Nur hielt sie es für unpassend, dass er sich in Socken vor ihr aufbaute.
»Milch oder Zucker?«
Mit seinem Lächeln gedachte er sie wohl aufzumuntern, bevor er den Vorhang aufzog und sie – selbst verblüfft – mit dem Gleißen der Mittagssonne blendete. Dass er die Gardine trotzdem nicht wieder zuzog, ärgerte sie etwas.
»Was heißt hier oder? Milch und Zucker!« Vielleicht klang das etwas zu barsch. Mit ihrer freien Hand schirmte sie die Augen gegen das Sonnenlicht ab und schob ein »Bitte!« nach. Ihr Blick verfolgte Leberecht, bis er in der Nische hinter dem Aktenschrank verschwand. Die Anspannung fiel von ihr ab, und sie schmunzelte. Schließlich hatte sie ihn beraten, wie er eine Junggesellenküche integrieren könne, ohne dass seine ‚Klientel‘ etwas von der Zweckentfremdung des Büros mitbekäme. Sie hörte ein Klappern, das typische ‚Pling‘ eines Mikrowellengeräts oder eines Minibackofens beim Abschalten und das Schaben von Geschirr auf Kunststoff. Kaffeeduft strömte ihr entgegen.
Wenige Minuten später kam Leberecht zurück, beladen mit einem Tablett, von dem er ein Gedeck vor ihr und ein weiteres an der Schmalseite des Schreibtisches stellte. Aus der Glaskanne schenkte er Maschinenkaffee in die Tassen. Milch, Zucker, eine Dose Margarine der Hausmarke des nahen Supermarkts und ein Glas Erdbeermarmelade ließ er auf dem Tablett stehen. Auf Anerkennung hoffend schaute er zu seiner Vermieterin, als er mit einer Gebäckzange je zwei Croissants auf ihren und auf seinen Teller hob. Noch im Stehen löffelte er einen Klecks Konfitüre auf ihren Teller, einen zweiten strich er auf sein eigenes Croissant, in das er sofort herzhaft hineinbiss.
Mit halboffenem Mund strahlte sie ihn an, so viel Zuvorkommenheit hatte sie nicht erwartet. Dass sie ihr zweites Frühstück zur Mittagszeit einnehmen sollte, minderte ihre Freude nicht. Beim ersten Bissen in das Croissant fiel ihr Blick wieder auf die Zeitung. Fast verschluckte sie sich, als ihr auffiel, dass sie den Grund für ihren Besuch schon vergessen hatte. Sie legte das Gebäck auf ihren Teller zurück und griff zum ‚Stadtanzeiger‘.
»Das haben Sie sicher noch nicht gewusst. Es ist schrecklich!« Sie blickte auf und schaute einem Mann in ihrem Alter ins Gesicht, der gerade die personifizierte Ratlosigkeit darstellte. »Die Nightingale ist tot. Heute früh hat ein Jogger sie im Entenweiher des Stadtparks gefunden. Sie lag bäuchlings im Wasser, einen Schuh hat der … Was ist mit Ihnen los? Sie sehen so bleich aus.«
Nun war es Leberecht, der den Mund offen stehen hatte. Fahrig fingerte er den Stuhl vom Schreibmaschinentisch herüber und ließ sich darauf sacken.
»Tot? Ich … Sie war ja nicht nur eine Schriftstellerin, deren Bücher ich gern las. Da ist mehr! Gestern nach der Autogrammstunde hatte ich das mit Absicht nicht erzählt. Ihr gegenüber wollte ich es nicht erwähnen, so berühmt, wie sie geworden ist, und hinterher hab ich‘s vergessen. Valentina Nightingale war ihr Pseudonym, sie heißt … sie hieß Frieda Deutsch. Im Gymnasium war sie meine Klassenkameradin und meine Jugendliebe, was ich ihr nie gestanden habe. Und nun …«
Bereitwillig ließ sie die Zeitung los, als er sie zu sich herüberzog. Dass das Marmeladencroissant auf der Zeitungsrückseite rote Spuren zog, die er an seinem Bademantel abstreifte, schien er nicht zu bemerken. Stumm beobachtete sie, wie sein Blick der Schlagzeile Berühmte Schriftstellerin im Stadtpark ertrunken und dem kurzen Text darunter Zeile für Zeile folgte.

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Copyright Michael Kothe, 2022.
Die Leseprobe stammt aus Kothes Debütkrimi „Roman mit Todesfolge“. Das Buch erscheint im Juni 2022 beim Telegonos-Verlag (ISBN: 978-3-946762-68-3, Print und eBook) und kann über den örtlichen Buchhandel und online bestellt werden. Mehr auf https://autor-michael-kothe.jimdofree.com/ unter „My Books/Krimis“ und beim Verlag https://www.telegonos.de/aboutMichaelKothe.htm.
Copyright Buchcover: Nathalie C. Kutscher/Kutscherdesign