Träumer

Von Johannes Morschl

1

Er war wieder einmal völlig umstellt von den Figuren seiner Hirnparanoia. Er bildete sich ein, man beobachte ihn heimlich, man schnüffle ihm nach, was er da wohl wieder für ein verdächtig riechendes Zeug rauche. Ja, es schien ihm so, als hörte er hinter der Wand zur Nachbarwohnung, wie man über ihn redete: „Dieser komische Kauz! Irgendwie ist der unheimlich. Und dann dauernd der Qualm aus seiner Wohnung! Das riecht ja wie aus einer Opium-Höhle!“ Ha! Die reden so, als wären sie schon jemals in einer Opium-Höhle gewesen!, dachte er. Er war allerdings auch noch nie in einer Opium-Höhle gewesen, stellte sich aber vor, dass in so einer Opium-Höhle überwiegend ältere, dürre, verwittert aussehende Männer auf einem abgewetzten orientalischen Teppich saßen oder lagen, die schweigend an ihren Opium-Pfeifen nuckelten und in eine Welt entrückt waren, die etwas von Watte an sich hatte. Man fühlte sich in dieser Welt rundum wattiert, nur die durch die Watte dringenden Geräusche von der Straße störten.

Ihm fiel das Thema Geburt ein. Er sah seine Geburt als eine Art von Verurteilung an, in eine fremde, riesige kalte Welt hineingeworfen worden zu sein. Später folgten unglückliche Liebesbeziehungen, er hatte das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er fühlte sich geradezu dazu verurteilt, er selbst zu sein. Er schaute sich immer etwas unsicher in den Spiegel, versuchte sich als einigermaßen gut aussehend zu reden, zweifelte aber gleichzeitig daran. „Spieglein, Spieglein an der Wand…am liebsten wär‘ ich jetzt im Nimmerland.“

Ja, ja, das Suizidale, das gehört zu solchen Gestalten wie ihm dazu. In manchen Gegenden der Stadt muss man aufpassen, dass einem nicht ein Lebensmüder von einem Hausdach auf den Kopf fällt. So wie es Verkehrsballungszentren gibt, gibt es auch Suizidballungszentren, vor allem dort, wo Hochhäuser stehen. Er stand auch schon einmal hoch oben an der Dachkante, was heißt einmal! Dreimal stand er schon hoch oben an der Dachkante, aber der Überlebenstrieb war stets stärker als seine Anfälle von Todessehnsucht, und so hat er zumindest kein Unheil angerichtet, denn bei seiner Tollpatschigkeit hätte es durchaus geschehen können, dass er einer unten zufällig vorbeigehenden, nichts ahnenden Person auf den Kopf gefallen wäre. Man stelle sich das vor: Man geht in Gedanken versunken den Bürgersteig entlang, und wie aus dem Nichts fällt einem ein Lebensmüder von einem Dach auf den Kopf! Ja, hätte der sich nicht auf eine andere Art und Weise umbringen können, würde man schimpfen, falls man dessen noch fähig wäre. Höchstwahrscheinlich wäre man aber dessen nicht mehr fähig, wenn einem ein Lebensmüder vom Dach auf den Kopf gefallen ist.

Komm, lass uns lieber an etwas Schöneres denken, sagte er sich. Erinnere dich, wie du in deiner Jugendzeit gesungen hast: „Bruder, lass den Kopf nicht hängen, kannst ja nicht die Sterne sehen. Aufwärts blicken, vorwärts drängen, wir sind jung, die Welt ist schön…“ – Schopenhauer hätte sich im Grab umgedreht, wenn ihm solch illusorischer Optimismus zu Ohren gekommen wäre, dachte er sich sofort. Und während Schopenhauer sich im Grab umgedreht hätte, hätte er gemurmelt: „Die jungen Leute werden noch ihr blaues Wunder erleben.“

2

Er sagte sich, wir gehören zu jenen, die zwar optimistische Ideen haben, Ideen von einer besseren, gerechteren, friedlicheren Welt, die aber gleichzeitig wissen, dass dies nur Träume sind. „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“, haben wir so oft gesungen, aber sie wollten partout nicht aufwachen, die Verdammten dieser Erde, und wenn sie mal aufgewacht sind, landeten sie bald in einer neuen Tyrannei. Da hörte er den Einspruch des in ihm noch immer vorhandenen linksradikalen Teils seiner Persönlichkeit: „Das ist Defätismus! Kleinbürgerliche Bequemlichkeit, sich lieber auf die faule Haut zu legen und Däumchen zu drehen, anstatt etwas zu riskieren! Freiheit und soziale Gerechtigkeit werden einem nicht geschenkt! Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden…“ Du, und auf einer Barrikade!, sagte er sich. Dass ich nicht lache! Dazu fehlt dir der Mumm. Du wärst besser bei den ewigen Träumern aufgehoben, – der depressive, einem übermäßigen Alkoholkonsum zuneigende Maler und Dichter, wobei du die Malerei in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt hast.

Da stürzte etwas bei ihm ein. Die Malerei war ihm ganz einfach zu teuer geworden. Er konnte sich Leinwände und hochwertige Farben – er hatte immer nur mir hochwertigen Farben gemalt – schon lange nicht mehr leisten. Dies war das Bedrückendste an seinem kärglichen Monatsbudget, das zu viel um zu sterben und zu wenig um zu leben war. Aber was soll das Gejammere?, sagte er sich. Willst du damit Mitleid erwecken, etwa bei einer begüterten Witwe, die auf Hofnarren abfährt? Willst du dann bei der Dame einen auf g’schamster Diener machen, um diesen wienerischen Ausdruck zu bemühen? Er hatte sich ohnehin bei den Frauen immer zum Narren gemacht. Irgendwann wurde das den Frauen zu viel und sie suchten sich einen anderen Narren.

3

Spüren Sie das auch, diese nur vom Gurren der Tauben unterbrochene angespannte Stimmung in der Stadt? Wie weit wird Putin gehen? Wird er uns auch mit Raketen beschießen lassen?, sagte er zu einem imaginären Publikum. Die Preise klettern rasant in die Höhe, sagte er, und man bekommt kein Sonnenblumenöl mehr. Er bräuchte dringend eine reiche Witwe. Aber von wo sollte er eine herzaubern? – Begüterte Witwen, bitte meldet euch bei ihm, er wird auch das Geschirr abwaschen, falls kein Geschirrspüler vorhanden ist. Und er ist stubenrein, wechselt jeden Tag die Unterhose, putzt sich auch immer die Zähne, usw. Ja, er turnt sogar jeden Morgen, um sich fit zu halten. Nur mit dem Spazierengehen hat er es nicht so. Er ist eher ein Stubenhocker, oft vertieft in irgendeine seltsame Lektüre, wie zum Beispiel in den Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende von Alfred Döblin, oder in den Theatertext Einfach kompliziert von Thomas Bernhard, – „Handwerkergeringschätzung / Wir haben alle unsere Talente verkümmern lassen / Ausgezeichnet für Verschrobenes…“, um daraus zu zitieren. Zudem hört er gerne klassische Musik, etwa die Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach, oder die Impromptus von Schubert, oder das Requiem von Mozart. Besonders Letzteres berührt ihn immer zutiefst. – So, jetzt reicht es aber, jetzt haben wir genug die Werbetrommel für ihn gerührt. Man darf nicht übertreiben, sonst fühlt sich so manch reiche Witwe abgeschreckt, und das wollen wir ja nicht. (Das mit der „Handwerkergeringschätzung“ aus Thomas Bernhards Einfach kompliziert sollte man lieber weglassen. Dies könnte eine potentielle reiche Witwe abschrecken. Sie könnte dann denken, man wolle sich bei ihr nur auf die faule Haut legen und sich von ihr durchfüttern lassen).

4

Er hat schon von Jugend an eine Neigung zum Umsturz gehabt. Man müsse die herrschenden Verhältnisse von den Füßen auf den Kopf stellen, damit die trübe, träge Gedankenbrühe, die sich in den Hirnen angesammelt hat, durch Augen, Ohren und Nase nach unten abfließen könne, hat er sich gedacht. Gut, man könnte einwenden, dies sei die Fantasie eines unverbesserlichen Kopffüßlers. Außerdem seien Umstürze viel zu anstrengend. Und wohin führen sie? Nur zur Notwendigkeit neuer Umstürze, zu Umstürzen der Umstürze, usw.

Eigentlich war er vollkommen ungeeignet für einen Umsturz. Eigentlich wollte er immer nur seine Ruhe haben. Eigentlich wollte er nur ungestört träumen.

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© 2022 Johannes Morschl
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