Von Michael Wiedorn
Zwei Herren im Trenchcoat klingeln um 5 Uhr früh bei mir. „Stellen Sie keine Fragen!
Wir stellen jetzt die Fragen.“ Meine Zimmervermieterin steht wie Espenlaub zitternd
im Türrahmen ihres Schlafzimmers. In ihrem Gesicht steht Angst – grauenhafte Angst.
Die Augen weit aufgerissen und hellwach. Um 5 Uhr früh kommt nicht die reguläre
Polizei. Die zwei Beamten packen mich mit gewalttätiger Kraft an meinen beiden
Armen. Ihre Visagen sind aus Beton. Sie sehen vollkommen gleich aus. Die Beiden und
die Zimmervermieterin betrachten mich befremdet. Mir fällt auf, daß ich schon
ausgehfertig in Straßenkleidung bin. War ich nachts außer Haus? Erwartete ich die
Agenten? Das Treppenhaus ist noch still. Der eine Polizist schaltet das Licht für das
Treppenhaus an. Die nackte Glühbirne an der Decke taucht die durch die Jahre gelb
und braun verschmutzten Wände, deren Verputz abblättert, in ein kaltes Licht. Durch
das Fenster sieht man den durch das Morgengrauen dunkelblau gewordenen Himmel.
Das einzige Geräusch ist das Zwitschern der Vögel. Wir steigen in eine Limousine mit
abgedunkelten Fensterscheiben. Im Wagen stößt mir einer der Agenten mit voller
Schlagkraft in den Unterleib. Ich krümme mich vor Schmerz zusammen. Der andere
Polizist gibt dem Fahrer einen Wink zum Abfahren. Wir fahren mit höchster
Geschwindigkeit durch Nebenstraßen auf die Autobahn. Plötzlich werde ich fürchterlich
müde. Habe ich die letzte Nacht nicht geschlafen? Draußen erstrecken sich weite
Ebenen aus blanker Erde und Steinen. Verfallene Wohnblocks und Werbeplakate. Ich
versuche wach zu bleiben, aber immer wieder fallen mir die Augen zu. Ich schrecke
auf. Wir verlassen die Autobahn und landen auf einem steinigen Acker. Braune,
durchfurchte Erde. Wir halten mitten in der Leere. Mich packt plötzlich eine würgende
Angst. Das Herz springt mir bald aus der Brust. Einer der beiden Agenten brüllt:
„Steigen Sie aus!“ – und reißt mir die Türe auf. „Wir sind angekommen. Man wird sie
hier exekutieren!“ Auf den Äckern bilden sich in der Luft Wellen. In gelblichen
Luftwellen sehe ich gespenstisch durchscheinende Gestalten, die ihren Spaß haben.
Sie erfreuen sich ihres Totseins. Die Schemen von lachenden, nackten Mädchen und
Jungs springen und lärmend herum. Ein klar erscheinendes, fröhliches Männergesicht
mit Tiroler Hut und Gamsbart jauchzt.
Sein Rumpf ist ausgelöscht. Arme und Beine verschwimmen im gelben Dunst. Ich
weiß: diese Leute wurden von Beamten liquidiert. Sie sind den Beamten so dankbar.
Ehemalige Erwachsene, die zum Spielzeug der Polizei herabgewürdigt worden sind.
„Ihr Problem ist Ihr Stolz“ – sagt ein Polizist zu mir. Er deutet auf einen Schlammteich.
Unvermittelt stehen wir an einem steilen Abhang. Der Teich liegt in einer weiten
Landschaft tief unter uns. Blutleere, graue Formen, die Armen ähneln, greifen
verkrampft in die Luft und scheinen sich befreien zu wollen. Die völlig von Schlamm
bedeckten Körper haben keinen rechten Zusammenhalt. Sie sind nicht greifbar. Sie
sehen wie zornig hoch gewirbelte Schlammmassen aus. Schlamm ist für die bestimmt,
die sich im Stolz aufbäumen. Die Hoffnungslosen. Auf Befehl knie ich mich mit dem
Rücken zum Polizisten hin. Er schießt mir gezielt ins Genick. Mir platzen Herz und
Stuhlgang.
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© 2022 Michael Wiedorn
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