Vermutungen

Von Michael Wiedorn

Die Schwarz-weiß-Fotos vor mir zeigen einen fremden, jungen Mann. Irgendjemanden. Er gilt rechtlich als mein Vater. Wer ist der Unbekannte? Das dunkle Haar ist ordentlich gescheitelt. Ist das Haar schwarz oder dunkelbraun? Ein unscheinbares Gesicht ohne Merkmale, die herausstechen. Wie jeder trägt er Augen, Mund, Nase auf seiner Gesichtsfläche. Trug er je etwas Anderes als einen schwarzen Anzug? Gab es ihn als wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut oder gab es ihn nur als papierene Abbildung? Die ersten Jahre meines Lebens lebte er mit mir und meiner Mutter zusammen. Woher weiß ich das? Hat mir meine Mutter davon erzählt oder hatte ich Erinnerungsbilder von ihm, die mir schon längst entflossen sind? Mir fehlen Bilder, die zeigen, wie er sich sein Frühstücksbrötchen strich, wie er von der Arbeit heimkehrte oder wie er mich anblickte. Ich erinnere mich nur an eine Bahnstrecke. In der einbrechenden Abenddämmerung versanken an Gleisen die Tannenwälder ins Dunkel. Am Bahnübergang erhob sich ein Schild mit einem Totenkopf.

Vater hat seinen Erstkommunionsanzug seit seiner Jugend nicht mehr ausgezogen. Seine späteren Geschäftsanzüge und Smokings und Zweireiher waren nur Abwandlungen seines ersten Anzuges. Ein schmächtiger und strebsamer Junge, dem der Anzug immer zu groß sein wird. Die abgetragene Kleidung wohltätiger Nachbarn. Mein Vater wurde von der Sehnsucht nach der Chefetage angetrieben. In der Verwaltung oder der Wirtschaft. Er stammte aus dem tiefsten Dreck. Meine Mutter erzählte mir, dass er aus Jägerndorf stamme. Mährisch-Schlesien. Sie kannte den Ausdruck „Mährisch-Schlesien“ nicht. Sie sagte immer nur „Tschechei“ oder „Sudeten“. Wie sieht oder sah es dort im finstersten Osten aus? Ich bin nicht Fleisch von seinem Fleische. Ich bin dem Samen eines Anderen entsprossen. Ich versuche mir Jägerndorf tief im legendären Osteuropa vorzustellen. Bei heftigem Regen sollen die Wege zwischen den Hütten im Schlamm versunken sein. Die Behausungen sollen verfallen sein und sollen von Schmutz verkrustet gewesen sein. Das weiß ich. Das stelle ich mir so vor. Mir gefällt es, das Dorf nach Stallmist und abgestandener Scheiße stinken zu lassen. Nasses Holz ist dunkel – teilweise schwarz – und zerfließt zu ekelerregendem Brei. Der Brechreiz verhindert, dass sich alles in Bilder und Schein auflöst. Die Deutschen – vor allem vor dem Zweiten Weltkrieg – sollen doch so sauber und ordentlich gewesen sein. Das Dorf soll vor Reinheit geblitzt haben. Deutsche Ordnung und Sauberkeit – sagt man doch immer. Sorgfältigst gepflegte Geranienbeete. Ich streiche die Blumen feuerrot, zitronengelb und himmelblau an. Ich lege einen jägerzaungrünen Rasen aus. Die gesunde Natur ist vollständig gereinigt von Würmern und allem Unkraut. Lustige Gartenzwerge winken mir fröhlich grinsend mit fröhlichen Ärmchen zu. Meine Mutter erzählte mir, dass die Familie meines Vaters die Ärmste im Dorfe gewesen sei. Sagte sie. Mein Vater war schmächtig und verhielt sich ruhig und zurückhaltend. Ich glaube nicht, dass er wie ein einfacher Landarbeiter oder Bauer mit gebräuntem und schweißtriefendem Oberkörper auf dem Feld gearbeitet haben kann. Er kann garnicht geflucht oder gelacht haben. Er hat sein Leben damit zugebracht auf Fotografien im Anzug dazustehen oder als verfallendes Grau durch verblassende Erinnerungen zu spuken. Meine Mutter schilderte ihn als knochentrocken und radikal humorlos. Er langweilte sie. Sowas würde sie natürlich abstreiten.

Der ständige Hunger hatte ihn schwach gehalten. Die Wissenschaft soll herausgefunden haben, dass frühkindliche Mangelernährung und Bewegungsmangel den Kinderkörper lebenslänglich schwächen sollen. Knochenbau und Muskelentwicklung. Bei armen Leuten gab es früher sonntags als Festessen Pellkartoffeln und Quark. Mit erdfarbigen, dunklen Farben malte van Gogh eine flämische Bauernfamilie beim Kartoffelessen. Eltern, Großeltern und ganze Herden von unzähligen Kindern sind um den Tisch versammelt. Der Samen meines Vaters war zeugungsunfähig. Er legte Wert auf Abstand zu seinen Mitmenschen. Hatte mein Vater Geschwister? Ich weiß nur von einem Bruder, der als Erwachsener nach der Flucht nach Bayern in München-Laim eine Kunstglaserei betrieb. Mitten in der Kellerwohnung standen bunt glühende Kirchglasfenster. Die Erinnerungen zeigen mir draußen strahlendes Sommerlicht und unten in den Zimmern des Bruders war es schattig und kalt. Ich stelle mir grau-violette Sofapolster vor. Bei Verwandtenbesuchen ist es üblich Kaffee und Kuchen einzunehmen. Es wird wohl seine Frau anwesend gewesen sein. Das Vergessen hat mir die verflossene Gegenwart zur Schimäre ausgehöhlt.

Ein karger Holztisch und zwei dazu passende Holzbänke. Ich baue eine altdeutsche Szenerie auf. Die Gestalt meines Großvaters, an dessen Aussehen ich mich nicht mehr erinnere und ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich sie jemals gesehen habe und die Gestalt meiner Großmutter, die nie geahnt hat, dass ich nie ihr Enkel gewesen bin, saßen mit ihren beiden Buben an besagtem Tisch. Kräftige Holzbalken lasse ich die Hauswand bilden. Früher aß man aus Zinntellern und Butzenscheiben trennten das gemütliche Heim von der unheimlichen Außenwelt. Eine altdeutsche Kunkelstube unter der Hut des Hauses Habsburg. Mein Vater wurde nach dem Ersten Weltkrieg als feindlicher Ausländer in der Tschechoslowakischen Republik geboren. Ein Küchenkasten in hässlichem Blassrosa, das an einigen Stellen abgesprungen sein soll. Die Mauern der damals modernen Wohnküche sei vor vielen Jahren weißgestrichen gewesen sein. Das Weiß hätte sich in den vielen Jahren grau verfärbt und stellenweise bröckelte die Farbe ab und das Grau der Grundierung oder vielleicht sogar die Ziegel darunter hätten das fragliche Tageslicht erblickt. Ich stelle mir meinen Vater als Jungen in dieser Wohnküche sitzend vor. Die Fensterscheiben sollen aus der Fassung zu kippen gedroht haben, da der Kitt im Laufe der Jahre weggebröckelt sein soll. Kälte und Hunger. Kälte und Hunger zerbeißen und zersetzen die Glieder, die Muskeln, die Eingeweide. Wäre ich das Kind, das mein Vater war, würde sich mein Magen vor Hunger selbst verzehren und die beißende Kälte durchsetzte die innersten Zellen meiner Innereien. Draußen läge soweit das Auge reiche, das lebensverzehrende Weiß der Schneeflächen, das noch viele Monate liegen bleiben würde. Jede Erinnerung verflüchtigt sich im Schnee. Meine Großeltern hätten hart kämpfen müssen um dem steinigen Acker die tote Ernte zu entringen. Sie hätten Steine gesät und Steine geerntet und hätten sich immer nur von Steinen genährt. Ich lasse sie, sich als Knechte und Mägde bei reichen Bauern verdingen. Ich gewähre meinem Vater und seiner Familie den Unterhalt durch Almosen und Bettelei. Über dem böhmischen Dorf lasse ich die erdrückende Macht eines schwarzen Schlosses lasten. Die Limousine des Schlossherren wäre an dem zerlumpten, stinkenden Jungen vorbeigefahren. Ich lasse meinen Vater demütig am Wegesrand im Schlamm in die Knie sinken und auf vor seine Füße geworfene Groschen warten. Die verächtlich zugeschmissenen Münzen hätte er dann kniend oder im Dreck robbend aufklauben dürfen. Der durch diese Demütigung verbitterte Speichel würde sich in seinem Kinderkörper festsetzen und vergiftete für den Rest seines Lebens jeden Winkel seiner Seele.

Machte mein Vater als Junge Streiche oder saß er ruhig und diszipliniert über seinen Schulaufgaben, um sich für seine Karriere in der Chefetage vorzubereiten? In ferner Zukunft. Dieser Fremde mit dem ich nichts gemein habe. Der Gesichtslose, dessen Samen mich gezeugt hat, ist mir nie begegnet und wird mir nie begegnen. In einem abgedunkelten Raum sitzt eine Gestalt, dessen Gesicht im Schatten verdunkelt ist. Vielleicht hat er gar kein Gesicht. Mein Vater hat davon geträumt auf einer Universität zu studieren. Aus den Erzählungen meiner Mutter schließe ich, dass er vor ihr nie um andere Mädchen geworben hat. Ein ernsthafter, stiller Jüngling, der lieber an seine Zukunft denkt, als sich beim Studium durch die Oberflächlichkeiten des Begehrens stören zu lassen.

War mein Vater durch eine strenge Erziehung mit täglichem Rohrstockgebrauch verformt und verbogen worden? Mein Vater war Katholik. Als Erwachsener war er nicht gläubig, sondern eher an Wirtschaftsaufschwung und neuen Technologien interessiert. Vielleicht war er als Kind religiös. War das Elternhaus meines Vaters mit Heiligenbildchen zugestopft? Das wuchtige Eichenholzkruzifix mit dem geschundenen Leib des Herrn hätte wie ein kampfbereiter Ochsenziemer über den Köpfen der eingeschüchterten Eltern und Kinder geschwebt. Das Maul in der blutüberströmten Fresse wäre zum Drohschrei aufgerissen worden. Der Schlund des Allmächtigen hätte alle Sünden der Welt verschlungen. Die Eltern meines Vaters sollen liberal und aufgeklärt gewesen sein. Sie sollen ungläubige Sozialdemokraten gewesen sein. War der Vater meines Vaters ebenso gehemmt und ausgemergelt wie sein Sohn? War er seinen Söhnen ein sanfter und liebevoller Vater, der seinen Kindern verständnisvoll und beratend beistand? Seine Angetraute – also die Mutter meines Vaters – besuchte auch nach der Scheidung meiner Eltern mich und meine Mutter öfters. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an meinen Großvater. Ist er nie mitgekommen? War er schon tot? Das ist mir klar, dass meine Großmutter schwarzes Haar trug, das am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden war. Sie war schon sehr alt und ihr Haar war erstaunlicherweise überhaupt nicht angegraut. Ihr Körperbau war untersetzt. Sie strahlte mütterliche Wärme aus. Gebärendes Fleisch ist warm. Die feuchte Wärme in der Gebärmutter.

Weiche Fettschichten unter schweißperlender Haut. Sie trug immer einen Kamm im Haar. Ihre Gestalt steht mir immer noch klar und deutlich vor den Augen. Ich wusste nie, woran sie verstorben ist. An einem grauen Vormittag lag ich in der Badewanne. Das Telefon klingelte. Meine Mutter rannte runter ins Erdgeschoss zum Telefon und sprach einige Worte. Nach beendigtem Gespräch ging sie bedächtig die Treppe hoch und verkündete mir: „Die Oma ist tot.“ Ich empfand Nichts. Kein Gefühl. Ich bin eiskalt. Vielleicht verstand ich nicht, dass ein Mensch für immer spurlos verschwindet. Sich in Luft auflöst. Ihr Tod hinterließ bei mir keine Spuren.

Ja – mein Vater hatte schwarze Haare. Schwarze Haare. Er hat sie von seiner Mutter geerbt. Ich war als Kind blond und habe blaue Augen. Haar- und Augenfarbe hat mir meine Mutter von ihren Ahnen weitergegeben. Mein Körper gehört mir nicht. In meinen Körper greifen und fließen die Zellen und der Speichel von unzähligen Toten. Von Längstverstorbenen. Aus den Augen des Europäers blickt der Neandertaler. Mit meinem Vater habe ich nichts zu schaffen.

Mein Vater war nicht hässlich, aber auch nicht anziehend. Seine Fadheit löschte seine Gestalt aus. Die Mädchen im Dorfe dürften ihn wegen seiner Zierlichkeit und Dünnlippigkeit nicht beachtet haben. Ich blicke auf ihn durch die Augen meiner Mutter. Sein ärmliches Jackett mit zerfransten Ärmeln. Meine Mutter machte meinen Vater lächerlich, in dem sie mich veranlasste ihm in seiner Jugend allzu kurze Anzughosen anzuphantasieren. Hochwasserhosen. Der zeugungsunfähige Vater, der nicht berechtigt ist seinen Samen weiterzugeben. Er achtete Frauen. Es soll ihm widerstrebt haben in Frauen Ziele für seinen Trieb zu sehen. Der Mensch darf kein Tier sein. Der Mensch besitzt einen Körper wie er Geld und Möbel besitzt, aber ist selbstverständlich nicht sein Körper. Vater wird sich nach der warmen Umschlingung und Verschlingung der ihn gebärenden Höhle gesehnt haben. Geborgenheit in einem sauberen und brühwarm überheizten Reihenhäuschen. Der Mann soll in der Frau die Mutter ehren.

Die Deutschen marschierten ein. Im Krieg brechen Kugeln und Granaten Bäuche auf und die herausgeschleuderte Scheiße und die Gedärme hängen an Baumästen und liegen im Schlamm und sind schutzlos dem brennenden Himmel ausgeliefert. Ich blättere in einer Zeitschrift. In Wehrmachtsuniformen gesteckte Schuljungs und Lehrlinge rissen zu Kriegsausbruch von ihrer ihnen ungewohnten Macht berauscht den Schlagbaum zur polnischen Grenze hoch. Die männlich schönen Jungengesichter strahlten selig unter den Stahlhelmen. Ist der Träger meiner Erbanlagen damals zur Welt gekommen oder ging er als Kind zur Schule? Zur Zeit der Aufnahme des Fotos war mein Vater zwölf Jahre alt. Standen die Eltern meines Vaters mit ekstatisch glasigem Blick und von Geilheit steif gewordenem rechtem Gliedmaß am Straßenrand beim Einmarsch der nordischen Helden? Sie werden jetzt keine Lumpenproleten mehr sein, ausgemergelt und in schmierige Lumpen gehüllt und im Schlamm kriechend. Ich spinne und webe mir die Vergangenheit aus Wochenschaubildern und alten Fotografien zusammen. Draußen auf den Straßen hätten die vaterländischen Gesänge gedröhnt, das Quietschen der Panzerketten und das Stampfen der harten Stiefelsohlen. Unter irgendeinem Helm der marschierenden Soldaten blickt ein junges Gesicht – mein Gesicht oder ein Gesicht, das in einzelnen Zügen auf meines vorweist – aus dessen Samen meine Gestalt wachsen wird. In irgendeinem Zuchthaus oder KZ lebt mein Gesicht ausgehungert und erniedrigt ohne je zu wissen und ohne, dass es jemand anderes weiß, dass er mein geheimer Erzeuger sein wird. In einem dunklen Keller des Dritten Reiches steht in einer schattigen Ecke eine fremde Gestalt. Ihr verborgenes Gesicht darf niemand jemals erblicken. In den anonymen, marschierenden Massen verschwindet für immer mein mir unheimliches Gesicht.

Der brüllende Triumph des Reiches hätte die Fensterscheiben klirren lassen. Der Lehm der Wände hätte vibrieren können. Ja – Lehm. Böhmische Dörfer. Die Filmleinwand zeigt mir Lehmhütten in der Batschka und in der Puszta zwischen Schilfhalmen. Einsame Lehmhütten an der träge dahinfließenden Wolga. Der stille Don fließt durch die traurigen, schwarzen Ebenen des Ostens.

Der Lehm soll in der Vorahnung kommender Feuersbrünste gebebt haben. Risse sollen in den Mauern aufgeklafft sein. Vater und Mutter könnten sich ihre Kinder mit sich ziehend ins tiefste Innere ihres Hauses zurückgezogen haben. Das Herz tief im Inneren des Leibes hat im regelmäßigen Rhythmus das Blut der Kleinen eingepumpt und ausgepumpt. Von blutrotem Licht überflossen sollen die Hände meiner Großeltern beschützend auf den Scheiteln der Buben gelegen haben. Draußen ist jemand mit vom Helmrand verschattetem Gesicht vorbeigelaufen. Aus der bergenden Brust heraus, durch die Rippen sollen sie ängstlich auf die ihr Leben bedrohenden Gewitterwolken gestarrt haben.

Die Angst trieb die Tschechen tief ins Herz ihrer Häuser. Das Herz pumpt das Blut. Mein Vater wurde mit Achtzehn kurz vor Abitur und Kriegsende eingezogen – erzählte meine Mutter. Sie gab die Erzählungen ihres Mannes und ihrer Schwiegermutter wieder, dass ihr Mann in russischer Gefangenschaft war. Wo waren 1945 noch deutsche Soldaten in der Sowjetunion? 1944 marschierte die Rote Armee in einige ihrer westlichen Nachbarländer ein. Hat mein Vater irgendwo in der UdSSR gekämpft? Meine Einbildungskraft reiht ihn in die Masse anonymer, verelendeter Gestalten ein, die 1942/43 ihrem grausamen Schicksal zugetrieben wurden. Riesige Herden kräftiger, gesunder Rindviecher mit sehnigen Rücken und Schenkeln treiben dem rot durchtränkten Schlachthaus entgegen, damit man ihnen dort große Stücke Fleisch von den Flanken schneide. Riesige Pranken werden ihnen die Eingeweide aus dem Bauch ziehen. Ein Held ist ein im Schlachthof zusammenbrechender Ochse. Wochenschauaufnahmen zeigen mir käsig bleiche, verwahrloste Figuren in zu großen, streng nach abgestandenem Schweiß und Pisse stinkenden Mänteln und mit schmutzigen Verbänden verschandelte Obdachlose in den Eisschrank Sibirien ziehen. Die frostklirrenden Mauern des Obdachlosenasyls erstrecken sich unzählige Kilometer weit bis zum Eismeer. Mein Vater war nur ein Komparse in den großen, zeitgeschichtlichen Ereignissen. Vor Ausbruch der Schlacht gingen die Damen von der Maske durch die Reihen der Soldaten und schminkten die Gesichter und beschmutzten die Uniformen mit Dreck und Staub. Mein Vater hauste wieder in Schlamm und Müll, aus dem ihn das Studium erlösen sollte. Grau und dreckiges Braun werden immer seine Farben bleiben.

Die Medien erklärten mir, dass mein Vater ein Vertreter der skeptischen Generation sei. Mir wurde berichtet, dass er nie einen Groll gegen die UdSSR oder die CSSR empfand. Er soll nie dem Antikommunismus der Adenauerzeit zugestimmt haben. Mir wurde erzählt, dass er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Kehrte er direkt aus Sibirien in sein Heimatkaff zurück?

Mährisch-Schlesien ist abgebrannt! Maikäfer flieg und kehr nie wieder! Die Deutschen dürften schon damals geflohen sein. Mein Vater hätte als Fremdgewordener am fremdgewordenen Bahnhof seiner fremdgewordenen Heimat ankommen können. Auf den Straßen, in denen er aufgewachsen ist zwischen den zerstörten, früher vertrauten Häusern schwebte sowas wie er in unmittelbarer Lebensgefahr. Der nächstbeste tschechische Zuwanderer hätte ihn straflos mit einem Streckschuss erlegen können. Die alte Heimat hat ihn auch früher schon wie ein versehentlich ins Maul geratenes Stück Unrat ausgespuckt. Die neuen Bewohner seines Elternhauses, in dem er Kindheit und Jugend erlebt hatte, würden ihn mit hassblitzenden Augen und einer geladenen Schrotflinte wie einen räudigen, von Flöhen und ekelerregenden Hautausschlägen zerfressenen Straßenköter um sein Leben rennen lassen. Vielleicht hätte er vor einer leeren Steinfläche stehen können. Verbrannte Erde mit verlassenen, verkohlten Trümmern. Seine gelebte Vergangenheit hätte sich in nichts aufgelöst.

Ein Filmausschnitt aus den ersten Jahren nach dem Krieg zeigt eine Schwester in ein ihre Weiblichkeit ausmerzendes, strenges Kostüm aus mausgrauem Uniformstoff gequetscht und mit von Sittenstrenge und Pflichterfüllung erstarrter Gesichtsmaske eine Gruppe von in dicken und hochgeschlossenen Mänteln vermummten Menschen, deren kaum sichtbare, leblose Gesichter von tiefen Furchen verunstaltet waren, über eine von einer Schneedecke bedeckte und von Drahtzäunen abgegrenzte Ebene führen. Hinten stehen triste Holzbaracken, die vor wenigen Monaten KZ-Häftlinge beherbergten und laublose Bäume strecken ihre toten Äste in den leeren Himmel.

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© 2022 Michael Wiedorn
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