Der Mensch in den unendlichen Weiten des Weltalls – Anmerkungen zu Blaise Pascal

Von Johannes Morschl

„Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.“ (1)

Die Pensées (Gedanken), jene Sammlung von fragmentarischen Aufzeichnungen des französischen Physikers, Mathematikers, Erfinders, Philosophen und Laientheologen Blaise Pascal (1623 – 1662), berühren uns noch heute durch ihre die Existenz des Menschen in der Welt erhellenden Aussagen. Darunter befinden sich Abschnitte über die Natur des Menschen und über seine Position im Weltall, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

„Was ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen. Das Ende der Dinge und ihr Anfang sind in einem undurchdringlichen Geheimnis unüberwindlich für ihn verborgen. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er gezogen ist, wie die Unendlichkeit, von der er verschlungen ist.“ (2)

Der Mensch befindet sich zwischen zwei Unendlichkeiten, – der des Mikrokosmos und der des Weltalls. Zu Pascals Zeit konnte man mit den ersten Lichtmikroskopen (um 1600 in den Niederlanden erfunden) die für das menschliche Auge ohne Hilfsmittel unsichtbare Welt des Mikrokosmos sichtbar machen und es offenbarten sich neue Welten im Winzigen. Ebenso konnte man mit den ersten astronomischen Teleskopen viel tiefer und genauer, als es dem menschlichen Auge bis dahin möglich war, in das Weltall schauen, und konnte eine Ahnung von dessen schier unendlichen Größe mit seinen unzähligen Himmelskörpern bekommen. Galileo Galilei (1564 – 1642) und Johannes Kepler (1571 – 1630) waren die ersten Anwender der Teleskop-Astronomie. So erscheint der Mensch als ein „All im Hinblick auf das Nichts“ und ein „Nichts im Hinblick auf das All“, der weder den Mikrokosmos mit seinen immer noch kleineren Teilchen, noch die Unendlichkeit des Alls bis in seine letzten Gründe erfassen kann.

Die Unendlichkeiten im Winzigen wie im Kosmischen haben sich durch unser heutiges Wissen noch vervielfacht. Die moderne Physik hat immer kleinere Teilchen entdeckt, angefangen von den Atomen, aus denen die Materie zusammengesetzt ist, und die wiederum aus Protonen, Neutronen und Elektronen bestehen, bis hin zu den Elementarteilchen und Antiteilchen der kosmischen Strahlung, zu den Quarks, Leptonen, Hadronen, usw. Aber mit jeder neuen Entdeckung entstanden und entstehen neue Fragen. Mit den heutigen Weltraumteleskopen können wir tiefer als je zuvor in die Raumzeit des Weltalls blicken, und wir wissen inzwischen, dass es Milliarden von Galaxien gibt. Über das Universum gibt es heute unterschiedliche Theorien bezüglich seiner Gestalt und Ausdehnung, die in der Regel von der Urknall-Theorie als Erklärung für seine Entstehung ausgehen, also für die Entstehung von Raum und Zeit aus einer Anfangssingularität, in der Raum und Zeit noch nicht vorhanden sind. Auch wenn der Mensch in seinen kleinsten Teilchen aus Sternenstaub besteht und insofern eins mit der kosmischen Materie ist, so ist er in seiner besonderen Gestalt als Landtreter auf der Oberfläche seines Heimatplaneten Erde nahezu ein Nichts im Universum.

So wie die Wissenschaftler heute – etwa in der Astrophysik oder in der biologischen
Entschlüsselung der Formbildungen von Lebewesen – mit jedem neuen Wissen auf neue Fragen, Rätsel und Grenzen stoßen, so erging es auch den Gelehrten und Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts, in dem es zu einem wissenschaftlichen und technischen Aufbruch kam, den wir als den Beginn der Moderne bezeichnen können. Pascal erlebte diese Grenzen in seinen Forschungen als Physiker und Mathematiker (3), und erkannte, dass das wissenschaftliche und philosophische Streben nach einem letzten Grund des Seins zum Scheitern verurteilt ist.

„Wo immer wir an eine Grenze zu geraten und festen Fuß zu fassen vermeinen, gerät sie in Bewegung und entgleitet uns; wenn wir ihr folgen, entzieht sie sich unserm Griff, entschwindet uns, in ewiger Flucht vor uns. Nichts bleibt vor uns stehen. Das ist der Zustand, der uns natürlich ist und trotzdem zu unseren Neigungen im größten Widerspruch steht; wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges bleibendes Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten und die Erde tut ihre Abgründe auf.

Suchen wir also weder Sicherheit noch Festigkeit: Unsere Vernunft wird von der Unbeständigkeit der Erscheinungen beständig betrogen; nichts kann dem Endlichen zwischen jenen beiden Unendlichkeiten, die es umschließen und die ihm entgleiten, einen festen Standort verleihen.“ (4) Und „der geringe Anteil, den wir am Sein haben, verhüllt uns den Anblick des Unendlichen.“ (5)

Der Mensch befindet sich als endliches Geschöpf der Evolution in einer bodenlosen Situation zwischen Nichts und Unendlichkeit. Es gibt für ihn keine Sicherheit, kein festes Fundament für seine Existenz. Er kann sich Sicherheit auch nicht mit seiner Vernunft verschaffen, „die von der Unbeständigkeit der Erscheinungen ständig betrogen“ wird. Diese letztlich bodenlose Situation des Menschen wird im 20. Jahrhundert Martin Heidegger in Sein und Zeit (1926) als die existenzielle Ungeborgenheit des Menschen beschreiben, der er auch nicht durch seine zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften entgehen kann. Die Angst vor dem Tod als unbestimmte Angst vor dem Nichts verweist ihn auf eine unüberbrückbare Ungeborgenheit in der Welt. (6)

Pascals Sichtweise, dass der geringe Anteil, den wir am Sein haben, uns den Anblick des Unendlichen verhüllt, und dass unsere Vernunft von der Unbeständigkeit der Erscheinungen ständig betrogen wird, führt uns zur Reflexion des menschlichen Erkenntnisvermögens. Was können wir überhaupt erkennen und inwiefern geben unsere Erkenntnisse, seien sie nun durch die sinnliche Wahrnehmung oder durch das Denken gewonnen, die objektive Realität wieder? George Berkeley (1685 – 1753) und Immanuel Kant (1724 – 1804) sagten, dass es kein Objekt ohne erkennendes Subjekt gibt. Die körperliche Welt würde ohne erkennendes Subjekt wegfallen. Später heißt es bei Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) in Die Welt als Wille und Vorstellung, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen und wie sie in unser Bewusstsein tritt, nur in unserer Vorstellung existiert. Wir können nur in der uns spezifischen Art und Weise erkennen, d.h. in Ursachen und Wirkungen. Das Kausalitätsprinzip liegt demnach nicht in der Natur, sondern ist unsere Art und Weise, Vorgängen in der Natur einen Sinn zu geben, den sie an sich nicht haben. Schopenhauer stimmte insofern mit Pascal überein, als er sagte, dass wir innerhalb der Schranken unseres Wahrnehmungs- und Denkvermögens zwar zu einem gewissen Verständnis der Welt gelangen können, „ohne jedoch eine abgeschlossene und alle ferneren Probleme aufhebende Erklärung ihres Daseins zu erreichen.“ (7)

Pascals Aussage, dass der geringe Teil, den wir am Sein haben, uns den Anblick des Unendlichen verhüllt, verweist nicht nur auf die Grenzen unseres Erkennens, sondern ist bei ihm auch theologisch zu verstehen. Für ihn konnte nur Gott die letzte Ursache sein. Gott, der Schöpfer des Universums, entzieht sich aber unserer Erkenntnis, bleibt uns verborgen, ist uns ein „verborgener Gott“ (8), der nur mit dem Herzen, nicht aber mit der Vernunft gefunden werden kann. Man könnte von einem Versteckspiel Gottes sprechen: Er entzieht sich den Rationalisten und offenbart sich nur einigen leidenschaftlichen Suchern. (9) Für Pascal bestand der einzig mögliche Weg, mit der Endlichkeit, Unsicherheit und Beschränktheit der menschlichen Existenz leben zu können, in der Suche nach dem verborgenen Gott, in der Suche nach Zeichen, die dieser verborgene Gott in die Welt gesetzt hat.

„Was in ihr (der Welt) sichtbar wird, beweist weder die völlige Abwesenheit, noch die offenbare Gegenwart einer Göttlichkeit, sondern die Gegenwart eines Gottes, der sich verbirgt.“ (10) Gott entzieht sich dem Verstand, kann verstandesmäßig nicht erfasst werden. (11) Gott kann nur mit dem Herzen gefunden werden. Mit dem Verstand können wir unsere Grenzen erkennen und wir können erkennen, Gott verloren zu haben. Erst wenn wir erkannt haben, Gott verloren zu haben, im Herzen aber die Sehnsucht nach Gott, die Öffnung zu Gott da ist, können wir ihn suchen. Pascal widersprach aber den Mystikern, die sagten, man könne die Vereinigung mit Gott, die Unio mystica, durch Abgeschiedenheit und geistliche Übungen herbeiführen. Diese Vereinigung geschieht aber nur in unserer Einbildung, ist eine selbst suggerierte Vereinigung mit Gott. Unser Wille und unsere Vorstellungskraft können nur immanent etwas bewirken. Sie haben keine unsere Endlichkeit überschreitende Wirkkraft zum Göttlichen hin. Laut Pascal können nicht wir uns mit Gott vereinen, aber Gott kann sich mit uns vereinen. Er offenbart sich denen, die ihn mit dem Herzen suchen. Er zeigt sich den Suchenden in Zeichen, die Chiffren seiner verborgenen Anwesenheit sind. Er kommt zu uns, nicht wir kommen zu ihm. (12)

Auch wenn für Pascal Gott ein verborgener, sich dem Menschen entziehender Gott ist, so ist für ihn das Annehmen-Können der eigenen endlichen, winzigen Existenz im Weltall nur sinnvoll möglich, wenn wir uns als Gottes Geschöpfe erkennen. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts verkündete der sächsische Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche, der sein Leben lang mit dem Christentum gerungen hat: „Gott ist tot.“ Bei ihm ist Gott nicht mehr verborgen, sondern endgültig verschwunden. Der Begründer des Existenzialismus Jean-Paul Sartre sagte 1945, wenn Gott nicht existiert, ist der Mensch verlassen und frei, – frei von vorgegebenen höheren Werten und moralischen Anweisungen. Er findet außerhalb von sich keine Entschuldigungen mehr für sein Verhalten. Es gibt keine Gnade Gottes. „Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das möchte ich mit den Worten ausdrücken: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.“ (13) Der Mensch findet auf der Erde kein göttliches Zeichen, das ihm Richtung weisen kann, wie noch Pascal glaubte. Und wenn der Mensch behauptet, eines gefunden zu haben, so ist dies bloß seine Einbildung. Der Mensch ist nach Sartre „in jedem Augenblick, ohne Halt und ohne Hilfe, dazu verurteilt, den Menschen zu erfinden.“ (14) Es gibt für den atheistischen Existenzialismus keinen höheren Sinn mehr. Die Existenz des Menschen, die Natur, der Kosmos sind an sich sinnlos, d.h. sie können auf keine äußere Sinn-Hierarchie bezogen werden, so wie dies in den früheren, noch nicht entzauberten Jahrhunderten noch möglich war, etwa nach dem Motto: Nach oben hin zum Göttlichen wird es immer lichter und reiner, nach unten hin zum Materiellen immer finsterer und schmutziger (z.B. bei Plotin in den Enneaden).

Die existenzialistische Seite bei Pascal, die auf das Geworfen-sein in die Welt bei Heidegger und Sartre, auf das Zu-sein-haben bei Heidegger und das Verurteilt-sein zur Freiheit bei Sartre vorwegweist, ist jene Seite, in der er drastisch die Verlorenheit und Einsamkeit des Menschen in den unendlichen Weiten des Weltalls beschreibt. Der Mensch weiß allerdings von seiner Sterblichkeit und Verlorenheit. Dieses Wissen ist ein erschreckendes und doch auch ein selbstbewusstes Wissen.

„Wenn ich die Verblendung und das Elend des Menschen sehe, wenn ich das ganze stumme Weltall betrachte und den Menschen: Ohne Licht, sich selbst überlassen und verirrt in diesem Winkel des Weltalls, ohne zu wissen, wer ihn dahin gestellt hat, wozu er dahin geraten ist, was aus ihm werden wird, wenn er stirbt, unfähig jeder Erkenntnis – kommt das Entsetzen über mich, wie über einen Menschen, den man schlafend auf eine verlassene und furchtbare Insel getragen hat, und der erwacht, ohne zu erkennen, wo er ist, und ohne Möglichkeit, sie wieder zu verlassen.“ (15)

„Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich in einem Winkel dieser unermesslichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich gerade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Punkt der ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: der Ewigkeit, die mir vorangegangen ist, und jener, die mir folgt. Ich sehe auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie einen Schatten, der nur einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann.“ (16)

„Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur; aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Es ist nicht nötig, dass das ganze Weltall sich waffne, ihn zu zermalmen. Ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Aber wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt, und kennt die Überlegenheit, die das Weltall über ihn hat; das Weltall weiß nichts davon.“ (17)

Der Mensch, jenes winzige Lebewesen in den unendlichen Weiten des Weltalls, versucht der einzigen absolut feststehenden Tatsache seines Schicksals, nämlich der seines Todes, zu entfliehen. Er flieht in die Zerstreuung. Später heißt es bei Heidegger, er flieht in das „man“ der Öffentlichkeit, in die Scheinsicherheit der Zivilisation und Kultur. Letztlich gibt es aber keine Sicherheit, keine Zuhause angesichts des Abgrunds des Todes. Jacques Attali schreibt in der Einleitung zu seiner Pascal-Biographie: „Er (Pascal) war einer der ersten, die aus der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins den Grund für das Verhalten der Menschen ableiteten und vorhersahen, dass die Angst vor dem Tod die Flucht in Zerstreuungen und Gleichgültigkeit bewirkt – heute würde man es oberflächliche Unterhaltung und beliebig-narzisstischen Individualismus bezeichnen.“ (18) Pascal war in dieser Hinsicht auch ein Vordenker der neueren Psychotherapie, die – wie z.B. bei dem durch seine Romane international bekannt gewordenen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom – davon ausgeht, dass die Angst vor dem Tod sich letztlich hinter allen neurotischen Ängsten und vielen anderen psychischen Störungen verbirgt.

Bei Pascal finden sich auch Gedanken, die wir im psychologischen Denken Nietzsches und Freuds wiederfinden. Er sah den Menschen als ein Doppelwesen, hin und her gerissen zwischen Leidenschaften und Vernunft: „Der innere Krieg des Menschen zwischen der Vernunft und den Leidenschaften: Wenn es nur die Vernunft gäbe, ohne die Leidenschaften… Wenn es nur die Leidenschaften gäbe, ohne die Vernunft… Da es aber beides gibt, kann der Mensch nicht ohne Kampf sein, da er mit dem einen nur Frieden haben kann, wenn er mit dem anderen im Kampf liegt: so ist er immer geteilt und im Widerspruch mit sich selbst.“ (19) Nietzsche sagte, der Mensch ist kein Individuum, sondern ein Dividuum, ein zweigeteiltes Wesen, zerrissen zwischen seiner tierischen Natur und seiner von einem schlechten Gewissen beherrschten Vernunft. Und Freud, der Nietzsche gelesen hat, beschrieb das psychische Drama des Menschen als ständigen Konflikt des bewussten Ichs zwischen den Geboten bzw. Verboten der anerzogenen Moralvorstellungen und den Triebansprüchen.

Die tragische Sicht Pascals auf die Existenz des Menschen im Kosmos hat viel mit seiner Lebenssituation in seinen letzten Jahren zu tun, als sein Vater gestorben ist und seine als Dichterin hochbegabte und von ihm heiß geliebte jüngere Schwester Jacqueline gegen seinen Widerstand in ein Kloster gegangen und ein Jahr vor ihm gestorben ist. Die Mutter hatte Pascal schon im Alter von drei Jahren verloren. Seit seiner Kindheit litt er an schweren Krankheitsanfällen mit schlimmen Kopfschmerzen und anderen somatischen Beschwerden, die immer nach Trennungserlebnissen auftraten. Die Ärzte konnten ihm nicht helfen, aber sie konnten damals ohnehin nahezu niemanden heilen. Der Zusammenhang von Trennungserlebnissen und Krankheitsanfällen lässt bei Pascal auf ein schweres Trennungstrauma schließen, ausgelöst durch den frühen Tod seiner Mutter. Die Trennungen und die Schmerzen scheinen Pascals Geist gegen Ende seines Lebens verdüstert zu haben. In dieser Zeit (etwa 1657 bis 1659) schrieb er die Pensées, die er später zu einem geschlossenen Werk ausarbeiten wollte, wozu er aber nicht mehr kam.

Otto Rank, Schüler und Mitarbeiter Sigmund Freuds und später Dissident der Psychoanalyse, wies darauf hin, dass die Geburt als Verlassen des Mutterleibs auch die Trennung des Menschen vom Einssein mit dem Universum bedeutet. Diese Bedeutung kann auch der frühe Verlust der Mutter bekommen. Die Welt erscheint durch ihren Tod verdüstert. Der indische Prinz Gautama Siddharta, der spätere Buddha (der Erleuchtete, Erwachte), hatte seine Mutter kurz nach der Geburt verloren und predigte später, die Welt sei nichts als Leid. Er rief zum Loslassen von den Anhaftungen an die Welt auf. Dies sei der einzig mögliche Weg zum inneren Frieden. In ähnlicher Weise zog sich Pascal in seinen letzten Jahren immer stärker von der Gesellschaft zurück, verschenkte Geld an die Armen und widmete sich wohltätigen Zwecken.

Pascals tragische Sichtweise ist aber nicht nur psychologisch zu verstehen. Sie entstand vor dem Hintergrund des Dramas der Veränderung des Weltbilds im 16. und 17.Jahrhundert, – der sogenannten kopernikanischen Wende, der Wende vom bis dahin gültigen geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. Die von dem griechischen Astronomen Claudius Ptolemäus (2. Jh. n. Ch.) aufgestellte Theorie, dass die Erde der unbewegliche Mittelpunkt des Kosmos sei, um den sich alle anderen Himmelskörper in vollkommenen Kreisbahnen bewegen, war bis ins 17. Jahrhundert hinein das offizielle Weltbild der christlichen Theologie, der Philosophie und der Wissenschaften. Dieses Weltbild wurde durch die heliozentrische Theorie von Nikolaus Kopernikus (1473 -1543) widerlegt, die besagt, dass sich die Planeten – also auch die Erde – in Kreisbahnen um die Sonne drehen. Diese Theorie wurde später durch Galileo Galilei (1564 -1642) und durch Johannes Kepler (1571 -1630) mittels Beobachtungen, Experimenten und Neuberechnungen bestätigt und verbessert. So wies Kepler nach, dass sich die Planeten nicht in Kreisbahnen, sondern in Ellipsenbahnen um die Sonne bewegen. Isaac Newton (1642 -1727) begründete dann mit der Aufstellung des Gravitationsgesetzes die Bewegungen der Planeten um die Zentralgestirne.

Standen im geozentrischen Weltbild die Erde und der Mensch im Mittelpunkt des Weltalls, so hat die kopernikanische Wende zu einem radikalen Bedeutungsverlust der Erde und des Menschen im Kosmos geführt. Auch die Position Gottes musste neu gedacht werden. Früher war Gott oben im Himmel. Der Himmel war eine überschaubare Hülle um die Erde und die Menschen herum. Die Welt war noch so, wie sie in der Genesis beschrieben wurde. Diese scheinbar unabänderlich feststehende Ordnung wurde durch die neuen Erkenntnisse über den Kosmos zerstört. Der Gott der Genesis hat sich plötzlich dem Menschen entzogen, und die bis dahin gültige Weltordnung mit ihren Werten und Sinngebungen hat sich in das Chaos eines kalten, teilnahmslosen Weltalls aufgelöst. Dieser gewaltige Verlust, diese Wende von einer göttlich-kosmischen Ordnung, mit der Erde und dem Menschen im Zentrum, zu den schier unendlichen Raum- und Sternwüsten eines völlig unbekannten Weltalls erzeugte eine tiefe Erschütterung und Angst, wie sie keiner jener früheren Gelehrten, Philosophen und Theologen so klar und dramatisch zum Ausdruck gebracht hat wie Blaise Pascal.

Quellennachweise und Anmerkungen:

(1) Blaise Pascal, Gedanken / Fragment 314, nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rüttenauer, Verlag Schibli-Doppler Birsfelden-Basel, Lizenzausgabe des Verlages Schünemann KG, Bremen (Sammlung Dietrich), ohne Jahresangabe, S. 150

(2) Ebenda, Fragment 313, S.149

(3) Pascal, der als Zehnjähriger ohne Unterrichtskenntnisse Gesetze der euklidischen Geometrie nochmals entdeckte und seinem Vater darstellte, und der als Zwölfjähriger auf Betreiben seines Vaters zu den Sitzungen der Academia Parisiensis, einer Versammlung von Gelehrten und Geistlichen, als Zuhörer zugelassen wurde, der als Einundzwanzigjähriger die erste Rechenmaschine konstruierte, die addieren, subtrahieren und multiplizieren konnte, der als Fünfundzwanzigjähriger, ausgehend von den Versuchen des Physikers und Mathematikers Evangelista Torricelli (1608 -1647), endgültig den Atmosphärendruck experimentell bewies, also die physikalische Tatsache, dass Luft ein bestimmtes, wenn auch geringes Eigengewicht hat, und damit die bisherige Theorie von der Gewichtlosigkeit der Luft widerlegte, der als Einunddreißigjähriger, ausgehend vom Glücksspiel in den adeligen Kreisen, in denen er verkehrte, die Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelte, der sich später mit der Berechnung der Volumen von rotierenden Kurven beschäftigte, wozu er eine Abhandlung schrieb, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) zur Entwicklung der Differential- und Integralrechnung inspiriert hat, – dieser leidenschaftliche Physiker und Mathematiker wusste, wovon er sprach, wenn er die Begrenztheit des Menschen und insbesondere auch die der menschlichen Vernunft aufdeckte, denn es handelte sich um Grenzen, an die er selbst immer wieder gestoßen war.

(4) Ebenda, Fragment 315, S.152/153

(5) Ebenda, Fragment 315, S.151

(6) Zu Heidegger darf nicht unerwähnt bleiben, dass er 1932 in die NSDAP eingetreten war. Heidegger war also kein „Märzgefallener“ wie z.B. der Staatsrechtler und politische Philosoph Carl Schmitt, der ursprünglich zu den konservativen Gegnern einer Kanzlerschaft Hitlers gehört hatte, sondern war schon vor März 1933, als Hitler an die Macht kam, überzeugter Nazi. Er attestierte den Nazis „Seinsentschlossenheit“, sie waren ihm aber diesbezüglich zu wenig radikal. Er war auch radikaler Antisemit, wie es in drastischer Art und Weise aus seinen Schwarzen Heften hervorgeht. (Zu Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus empfehle ich das Buch von Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Philo Verlag, Berlin 2000. Auch möchte ich in diesem Zusammenhang auf den Artikel „Philosophisches Gefälligkeitsgutachten? Konrad Liessmann im ORF über Martin Heidegger“ in der September-Ausgabe 2021 der österreichischen Zeitschrift ZWISCHENWELT- Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands hinweisen).

(7) Zit. aus: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie / Insel Verlag Frankfurt/Main und Leipzig 1996, S. 586

(8) Der verborgene Gott (lt. Deus absconditus) spielt in der christlichen Theologie bis heute eine Rolle, so in der Betroffenheit über das, was in den KZs der Nazis geschah. Wo war da Gott? Dabei beziehen sich die Theologen auf eine Stelle beim Propheten Jesajas, 45/15: „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland.“ (Luther-Übersetzung)

(9) Einmal scheint der Physiker und Mathematiker Pascal Gott zu definieren versuchen: „Die unendliche Bewegung; der Punkt, der alles erfüllt; der Augenblick der Ruhe. Unendlich ohne Quantität. Unteilbar und unendlich.“ (Blaise Pascal, Gedanken, Fragment 93, S.49) Dies erinnert daran, wie heute Astrophysiker die Anfangssingularität vor dem Big Bang zu beschreiben versuchen.

(10) Blaise Pascal, Gedanken, Fragment 341, S. 176

(11) Vom verborgenen Gott zum verborgenen Sein: Bei Heidegger, der sich von Gott und der katholischen Kirche losgelöst hat, tritt an die Stelle Gottes das Sein, das sich, indem es sich als Da-Sein zeigt, dem da-seienden Menschen verbirgt. Heidegger unterscheidet dabei zwischen Sein und Dasein. Dasein ist Vorhandensein. Sein ist das, was das Dasein trägt, hervorbringt und zurücknimmt. Sein kann philosophisch letztlich nicht erfasst werden. Um sich dem Sein annähern zu können, müsse sich das philosophische Denken der Dichtung annähern, selbst zu einer Art philosophischer Dichtung werden.

(12) Pascal war wie sein Vater Etienne, seine ältere Schwester Gilberte und seine jüngere Lieblingsschwester Jacqueline ein Anhänger des Jansenismus, einer nach dem niederländischen Theologen und Bischof Cornelius Jansen (Jansenius) benannten religiösen Erneuerungsbewegung innerhalb der französischen katholischen Kirche. Die Jansenisten vertraten eine strenge, an Augustinus orientierte Gnadenlehre, nämlich dass Gott jene, denen er die Gnade des ewigen Lebens nach dem Tod erteilt, von Geburt an auserwählt hat. Diese Gnadenlehre erinnert an die Prädestinationslehre des Reformators Johannes Calvin und trug den Jansenisten von Seiten der Jesuiten den Vorwurf ein, verkappte Protestanten und Kirchenspalter zu sein. Die Jansenisten predigten den Verzicht auf Reichtum, das Praktizieren von Nächstenliebe unter den Armen und Bedürftigen, den Rückzug vom Trubel der Welt und die innere Besinnung, die mit Hilfe sogenannter Gewissenslenker unterstützt wurde, die spirituelle Begleiter und Ratgeber waren. Die Jansenisten kritisierten die sogenannten Kasuisten aus den Reihen der damals am königlichen Hof in Frankreich und beim Papst in Rom sehr einflussreichen Jesuiten. Die Kasuisten erfanden spitzfindige Argumente, um auch schwere Schuld zu entschuldigen und mittels der Beichte zu vergeben. Zwischen Jesuiten und Jansenisten tobte eine heftige Auseinandersetzung, in die auch Pascal involviert war, der für seinen jansenistischen Freund Arnaud unter einem Pseudonym Verteidigungsschriften verfasste, die großes Aufsehen erregten. (Siehe dazu die empfehlenswerte Pascal-Biographie von Jacques Attali: Blaise Pascal – Biographie eines Genies, Klett-Cotta, Stuttgart 2006, im Original: Blaise Pascal ou le génie francais, Verlag Fayard 2000).

(13) Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, aus: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, 1943-1948 / Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2. Auflage April 2002, S.155

(14) Ebenda, S.155

(15) Blaise Pascal, Gedanken, siehe oben, Fragment 354, S.183

(16) Ebenda, Die Apologie der christlichen Religion, S.5

(17) Ebenda, Fragment 128, S.61 / An die Zitate (15) und (16) knüpft Hans Jonas im Epilog seines Buchs Gnosis – Die Botschaft des fremden Gottes (1957) an und stellt fest, dass sich bei Pascal das existenzialistische Grundgefühl des Verlorenseins, des Unzuhauseseins in der Welt ankündigt. Jonas bringt in dem Epilog den Existenzialismus mit der spätantiken Gnosis in Verbindung. Diesen Zusammenhang halte ich für zu konstruiert. Ich sehe gnostische, leib- und weltfeindliche Vorstellungen viel eher bis heute im Christentum und in der heutigen Esoterik-Szene weiterwirken. Der atheistische Existenzialismus von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus hat nichts mit der Weltfeindlichkeit der spätantiken Gnosis zu tun. Er ist im Gegenteil der Welt und den leiblichen Menschen zugewandt. Dies trug ihm z.B. von dem protestantisch geprägten Existenzphilosophen Karl Jaspers den Vorwurf ein, sich nur in der Immanenz der Welt zu bewegen und die Transzendenz zu übersehen.

(18) Jacques Attali, Blaise Pascal – Biographie eines Genies / Klett-Cotta, Stuttgart 2006, S.15

(19) Blaise Pascal, Gedanken, siehe oben, Fragment 137, S.63

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