Auf der Egnatia Odos A2 Kavala – Thessaloniki

Von Hans Peter Flückiger

Der Wecker ist auf sieben Uhr gestellt. Geweckt werde ich eine halbe Stunde vorher. Durch den Regen, der auf das Wellblechdach der Kiafas 14 niederprasselt. Dabei muss ich in einer Stunde los, um gegen zehn Uhr in Thessaloniki auf dem Makedonia Airport Claudias Bruder Res abzuholen. Plus/minus wird der jeden Augenblick starten, um dem regnerischen und kühlen Zürich zu entfliehen. Der Flugkapitän wird sie schon begrüsst haben. Er freue sich mit seiner Crew, dass er – und die 170 weiteren Fluggäste – sich entschieden hätten, mit SWISS nach Thessaloniki zu fliegen. Dort sei das Wetter bei einer Temperatur von aktuell 12 Grad bedeckt und regnerisch.
Nur ein temporäres Intermezzo? Ein Blick gegen den Himmel und auf die Wetter-App gibt dieser Hoffnung eher den Anschein eines frommen Wunsches. Das Regenwasser zischt beim Fahren unter den Pneus und spritzt gegen den Strassenrand. Drei Fussgänger ohne Regeschütze marschieren zügigen Schrittes die Odos Th. Kavalioutou hoch. Knöcheltief durch die ihnen entgegenkommende, lehmbraune Brühe.
Reisecars stehen auf einem Parkplatz. Die ersten Touristen scheinen in der Blauen Stadt, wie Kavala genannt wird, eingetrudelt zu sein. Was werden diese für Augen machen, wenn sie schon vom Hotelbett aus diese meteorlogische Bescherung sehen? Bei der Vorampel blinken die beiden gelben Lichter nicht. Das ist wirklich eine gute Einrichtung. Würde sie es tun, würde mir dadurch signalisiert, dass in etwa 200 Metern die Ampel auf Rot steht. Entsprechend könnte ich das Tempo drosseln. So kann ich aber zügig auf die Autobahnauffahrt in Richtung Thessaloniki abbiegen.
Aber was soll denn das? Hinter der ersten Kurve steht ein Auto, daneben, von der Strasse weggewandt, zwei Männer. Die Dringlichkeit muss hoch sein, dass sie ihr kleines Geschäft gleich hier und im strömenden Regen verrichten müssen.
Ich beschleunige. Die Scheibenwischer streichen quietschend über die Frontscheibe. Der Regen hat beinahe aufgehört. Wie immer, an einem Sonntagmorgen, ist kaum jemand unterwegs. Im – grosszügig berechnet – Minutentakt kommen mir Fahrzeuge entgegen. Hie und da werde ich von einem überholt, der es noch eiliger hat.
Ich meinerseits schnappe mir dann und wann einen Sattelschlepper. Die wenigsten tragen griechische Nummernschilder, sondern sind zum grössten Teil in der Türkei oder Bulgaren immatrikuliert. Auf einer Tafel lese ich, dass in Notfällen die Pannenhilfe unter der Telefonnummer 1077 zu erreichen ist, und etwas weiter, dass es bis Thessaloniki noch 172 Kilometer sind. Zum ausserhalb der Stadt, im Osten gelegenen Flughafen sind es noch zehn, zwölf mehr.
Viel anders als in der Schweiz ist es auf der Egnatia Odos nicht. Die Strassen und die Kunstbauten scheinen von guter Qualität zu sein. Jedenfalls erwecken sie diesen Eindruck. Namentlich die grün leuchtenden Fluchtwegportale in den Tunneln fallen mir auf. Was ich nicht begreife ist, wieso ich vor und nach Tunnels aufgefordert werde, am Fahrzeug das Licht ein- beziehungsweise auszuschalten. In der EU gilt doch seit einigen Jahren die Regel, auch tagsüber mit Licht zu fahren? Eine Regelung, welche vom Nicht-EU-Land Schweiz autonom nachvollzogen wurde. Wer sich nicht daran hält, wird mit 40 Franken gebüsst. Hier? Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich,
Aber es gibt – wenn teils auch nur in Nuancen – Unterschiede. Etwa die Kilometrierungsschilder, welche am Strassenrand im 500 Meter-Takt angeben, wie lange die Autobahn noch ist. So gibt es in der Schweiz kein kleines Schild, auf dem die Kilometerzahl 463 angegeben ist. Dieses streift mein Auge auf halbem Weg und sagt mir, dass ich bis an das westliche Ende der Autobahn 2 in Igoumenitsa noch so weit zu fahren hätte. Vom griechischen Hinterland im Osten in Thrakien an der Grenze zur Türkei sind es deren 670. In der Schweiz informiert das erste, weisse Schild an der A1 in St. Margrethen, dass es diagonal durch die Schweiz nach Genf 410 Kilometer sind.
Auch gewöhnungsbedürftig ist, dass viele der Sicherheitslinien kaum zu erkennen sind. Nach helvetischen Ansprüchen wäre ein Neuanstrich überfällig. Wobei – die meisten Autofahrer scheinen diese sowieso nur für eine dezente Verzierung der grauen Strassenfläche zu halten. Gut sind auf den grossen Strassen die beiden Fahrtrichtungen meist baulich getrennt. Übrigens oft nicht durch profane Mauern und Abschrankungen, sondern durch prächtig blühende Sträucherreihen. Am gewöhnungsbedürftigsten sind aber die Autofahrer, welche mit bedächtiger Geschwindigkeit halb auf dem Pannenstreifen durch die Gegend tuckern.
Die Linien, welche auf Baustellen Änderungen in der Breite und Führung der Spur markieren, sind hier nicht wie in der Schweiz rot, sondern gelb. Gut wäre, wenn die Baustelle geräumt ist, diese wieder entfernt würden. Wer diesen blind folgt, kann – insbesondere abseits der Autobahnen – arg ins Abseits geraten. Beachtlich sind auf Baustellen die Schilderwälder, welche aufgestellt werden, um Änderungen bei der Linienführung zu signalisieren. Dutzendweise wird man mit weissem Pfeil auf blauem Grund aufgefordert, ein Hindernis links zu umfahren. Die Gefahren- und Vorschriftssignale haben – rot umrandet – einen gelben Grund. Augenfällig ist das Gefahrenschild mit einer gehörnten Kuh darauf, welches – entlang der Autobahn – vor freilaufenden Rindviechern warnt.
Für mein Verständnis ist dieser Signaliritis kontraproduktiv. Was da alles aufgestellt wird, da eine 50-, dort gar eine 30 Stundenkilometerbegrenzung. Aber wen kümmert es? Wenn man sich einigermassen daran hält, sprich bei einer 30iger mit 40 durchfährt, wird man sicher überholt. Das Überfahren von doppelten Sicherheitslinien inbegriffen.
Das nächste Strassenschild informiert mich, dass in zwei Kilometern eine Mautstation kommt. Mousthéni, die erste von zweien auf den rund 170 Kilometern zwischen Kavala und Thessaloniki. Eine dritte ist im Bau. Der zu entrichtende Obolus ist bescheiden. 1,80 Euro für Motorräder, 2,40 für Autos, 8,70 für Lastwagen. Aber es sind unbeliebte Einrichtungen. Der erste Sturm der Entrüstung – bei dem auch mal ein Mauthäuschen in Flammen aufging – ist vorbei. Zumindest vordergründig. Hie und da wird an einem «Ochi-Tag» («Ochi» griechisch Nein) lauthals gegen einen Ausbau der Mautstationen demonstriert. Es ist offensichtlich, dass gebührenpflichtige Strassen möglichst weiträumig umfahren werden. Das Verkehrsaufkommen ist generell, und nicht nur an einem Sonntagvormittag, gering. Entlang der Überlandstrassen wird auf grossen Schildern darauf hingewiesen, dass, wer grundlos abseits der Autobahn unterwegs ist, mit einer saftigen Busse von 1500 Euro rechnen muss. Heute ist alles anders. Ich kann den Geldbeutel stecken lassen. Personenwagen können heute Sonntag die Autobahn kostenfrei benutzen.
Aus dem Nichts kommend schlagen auf einmal zwei Regenbogen ihre farbigen Bögen über die Autobahn. Da sollte es doch auch regnen? Und ob – plopp, plopp, plopp, beginnen grosse Regentropfen auf die Windschutzscheibe zu fallen. Wolkenbruchartig beginnt es zu giessen. Ich schalte die Scheibenwischer wieder ein.
Ein von Tierschützern gebasteltes Plakat bittet, auf die die Autobahn querenden Frösche achtzugeben. Ob die auf Beleuchtungsmasten sitzenden Störche diesen Wunsch auch beherzigen? Oder haben sie etwa das Warnschild gesehen und sind gerade deshalb hier?
Halb neun Uhr ist vorbei. Eine knappe Stunde bleibt mir noch. Das sollte passen. Landschaftlich sieht es entlang der Egnatia Odos gar nicht so unschweizerisch aus. Es ist gebirgig, und die Farbe Grün überwiegt. Irgendwie ist es wie auf der Fahrt durch das westliche Mittelland. Rechts, im Norden, vertreten – etwas höher – die letzten Ausläufer der Rhodopen den Schweizer Jura, die Reben und Olivenbäume die Laubmischwälder und die Treibhäuser die grossen Lagerhäuser und Verteilzentren der Grossverteiler. Hier ist noch, was das Schweizer Mittelland mal war: der Obst- und Gemüsegarten des Landes.
Thessaloniki naht. Hier nimmt der Verkehr zu. Aus allen Himmelsrichtungen vereinen sich an dieser Stelle die Hauptverkehrsstrassen. Zu wievielspurigen Schnellstrassen lässt sich mangels wirklich sichtbaren Markierungen anhand der durcheinander wuselnden Autos nur erahnen. Sechs werden es sicher sein. Neben den offiziellen Kuh-Tafeln warnen Eigenkreationen vor Wildschweinen. Jetzt heisst es Augen auf, um den Faden in Richtung Flughafen Makedonia nicht zu verlieren und die entsprechenden Ausfahrten zu erwischen. Ein langer, mehrspuriger Blechwurm, von dem ich ein Gelenk bin, kriecht dem Flughafen zu.
Da bin ich ja schon. Genau, da vorne, rechts Richtung Arrival geht‘s. Ich werfe einen kurzen Blick auf das grosse Plakat, welches über die Parkgebühren informiert. Eine bis 20 Minuten ist gratis, von der 21. bis zur 60. Minute kostet es vier Euro. Für die Folgestunde werden je zwei weitere Euros fällig. Ich öffne das Fenster und entnehme dem Automaten das Parkticket. Neben dem Kassenhäuschen ist ein Parkplatz frei. Dieser Blickfang ist praktisch, um in der mich umgebenden Autowüste mein Fahrzeug wiederzufinden.
Kurz nach 9:45 Uhr komme ich im Ankunftsterminal an. Flug LX2580 aus Zürich wird pünktlich um 10:15 Uhr erwartet. Die Zeit reicht, um an einer der Stehbars für 2,70 Euro einen Ellenico-Kaffee zu trinken und einem kurzen Besuch im sauberen WC mit Geberit-Toilette.
Nicht nur bei den Preisen für das Parkieren und den Kaffee, sondern auch an der Sauberkeit im WC, beim Blick auf die Baukrane und in die Publiumszeitschrift von Fraport, dem neuen Besitzer von Makedonia und weiteren Flughäfen in Nord- und Mittelgriechenland, stelle ich fest, dass ein neues Zeitalter anzubrechen scheint. Bleibt zu hoffen, dass nicht nur die Stakeholders und Passagiere, sondern auch das Fussvolk etwas vom neuen Segen mitbekommt. Wovon noch nicht alle überzeugt sind. Wo bleibt das Geld für die Leute, wenn man sich eine Woche zum Schnäppchenpreis die Sonne auf den Bauch scheinen lassen kann? Vor allem, wenn man die Hotelanlage gar nicht mehr zu verlassen braucht, da auch der Alkohol im All-inclusive-Arrangement oft inbegriffen ist.

Es ist 10:09 Uhr. LX2580 aus Zürich ist gelandet, steht auf der noch alten Anzeigetafel.

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