Anfangs Juni ist auch in Nordgriechenland der Vorsommer definitiv da. Es ist keine Seltenheit, dass die vom oft wolkenlosen Himmel scheinende – man ist schon beinahe geneigt zu sagen brennende – Sonne das Thermometer unerbittlich auf die über 30-Grad-Marke steigen lässt. Nach 20 Uhr ist der Sonnenuntergang aber nicht mehr fern. Und weht erst recht noch eine sanfte Brise vom Meer her, ist die Zeit da, auf die Dachterrasse zu steigen und, vor sich hin sinnierend, über die Dächer der Stadt zu schauen. Vorzugsweise in einem Klappstuhl sitzend – solche gibt es bei Masoutis1) für 12.99 Euro – und mit einem Glas kühlen Ouzo2) in der Hand.
Im Hintergrund ist die mit 20 Meilen nur einen Katzensprung entfernte Insel Thassos in einem Dunstschleier bloss schemenhaft zu erkennen. Das Meer ist ruhig und kräuselt sich leicht. In seinem Graugrün entspricht es aber keiner Postkartenidylle. Heller glänzend sind vereinzelt Schiffe zu erkennen. Die letzten Segel- und Motorjachten kehren von ihren Törns zurück und steuern den Hafen an. In die entgegengesetzte Richtung, hinaus auf die offene See, fahren Fischerboote. Gegen Morgen werden sie nach getaner Arbeit wieder zurückkehren. Vermutlich mit – im Vergleich zu früher – bescheidenem, bestenfalls mittelprächtigem Fang. Auch die Ägäis ist überfischt. Der Problemlösung aus dem fernen Brüssel, für eine Prämie ihre kleinen Boote abzuwracken und den grossen Trawlern das Feld zu überlassen, können nur die wenigsten etwas abgewinnen.
Im Westen bilden die Häuser von Kalamitsa, einem der neueren Stadtteile Kavalas, das Ende der Stadt. Die hellen Gebäude, welche sich entlang der Küste den Hang emporziehen, schimmern in der Abendsonne und erwecken einen urbanen Eindruck. In der Fortsetzung verliert sich am Horizont der Küstenstreifen von Nea Iraklitsa und Nea Peramos. Der Eindruck, dass sie die Fortsetzung der Stadt bilden, trügt. Die näherliegenden Buchten mit den Badestränden von Batis und Tosca und dem Dorf Palio sind hinter dem ansteigenden Hügelzug nur nicht zu sehen.
Im Vordergrund bilden die Hausdächer ein verschachteltes Neben-, Durch- und Miteinander. In allernächster Nähe ragt auf einer der wenigen unverbauten Grünflächen dunkelgrün eine Zypresse in den Himmel. Wie alt sie sein mag? Niemand, der hier wohnt, nimmt in Anspruch, vor ihr hier gewesen zu sein. Die Häuser haben den Glanz ihrer besten Tage verloren. Die pastellfarbenen Putze blättern ab. Da der ockerfarbene, dort der grünliche und andernorts die rötlichen und gelblichen. «Gut», kann man sagen, «das ist weiter nicht verwunderlich.» Immerhin sind wir hier – nach der Altstadt – im ältesten Quartier der Stadt. Was stimmt, aber nicht der «ganzen Wahrheit» entspricht. Die Finanz- und Wirtschaftskrise – ja, ja, es gab seither schon wieder andere – hat ebenfalls ihren Teil zur Tristesse beigetragen. Hauseigentümern, welche auch noch heute Wert auf eine gepflegte Liegenschaft legen würden, fehlt das Geld. Selbst für Pinselsanierungen. Mittels solchen ist früher vor Ostern, die Gassen hoch und Strassen runter, den Häusern regelmässig zu neuem Glanz verholfen worden. Erst recht mangelt es heute vielerorts am Geld für einen ordentlichen Gebäudeunterhalt. Nicht wenige der hier ansässigen Griechen sehen sowieso schwarz. Bei den Jungen lautet das Motto «Wer kann, der geht». Oder man ist schon gegangen. Mindestens in einen besseren Stadtteil, vorzugsweise aber nach Thessaloniki und Athen oder gleich ins Ausland. Zurück bleibt die ü50-Generation. Mit der Folge, dass immer mehr Häuser und Wohnungen leer bleiben oder von Nichtgriechen in Beschlag genommen werden.
Aus den Flachdächern – die meisten Häuser haben solche – ragen Armierungseisen in die Höhe. Diese ermöglichen problemlos ein weiteres Geschoss hochzuziehen. Das ist aber so eine Sache. So wie gegenüber, wo das Geld anscheinend vor den Ziegelsteinen und dem Mörtel ausgegangen sind. Eine zwischen anderen Gebäuden eingeklemmte, halb fertige Bauruine steht seit Jahren da.
Wäsche hängt an den Leinen. Neben Sonnenkollektoren und zwischen Warmwasserboilern, Fernsehantennen und einerseits ziemlich windschiefen, anderseits aber auch ganz stattlichen Aufbauten. Diese dienen als Einstellräume und Unterstände. Manchmal steht auch eine Heizung drin. Wer sich eine solche, und auch eine Klimaanlage leisten kann, ist gut daran. Ab dem Spätherbst bis Ostern die Wohnungen heizen und während des Hochsommers kühlen zu können, erleichtert das Leben spürbar.
Einer entzog sein Dach solch profanem Nutzen. Er errichtete eine Pergola. Reben und Efeu ranken, Wimpel und Fähnchen flattern im Wind. Der vom Grill hochsteigende Rauch lässt keine Zweifel aufkommen, dass ein derartiges Outdoor-Wohnzimmer eine reizvolle Sache ist. Andere geniessen die Abende auf den Balkonen. Solche fehlen kaum an einem der Häuser. Die einen sind schön und gepflegt. Einzelne zieren gar Geranien und andere Pflanzen. Bei anderen verunmöglichen heruntergelassene Storen einen klärenden Blick. Deren teilweise desolater Zustand lässt die Einsicht reifen, dass es vielleicht ganz gut ist, nicht immer alles so genau zu wissen.
Gegenüber hat auf einer der besseren Terrassen eine Frau Freundinnen zu Besuch. Zu dritt sitzen sie um einen kleinen Tisch. Darauf stehen eine Karaffe mit Wasser und vier Gläser. Man weiss ja nie, ob und wann sich noch jemand zur Runde gesellt. Die Gastgeberin hält ein Smartphone in der Hand. Auf dieses tippend streckt sie es gegen die Mitte des Tisches und erklärt etwas. Interessiert hörend und schauend beugen sich auch die beiden anderen vor. Was die Runde wortreich zu bereden hat, lässt sich nicht feststellen. Um auch nur Wortfetzen aufschnappen zu können, ist die Geräuschkulisse zu gross. Ein permanenter Brummton liegt in der Luft. Übertönt wird dieser durch aufheulende Motoren, gellende Autohupen und quietschende Reifen. Und knatternd liefert ein Motorradkurier Pizzen aus. Nur der Gruss an die Nachbarin „καλησπέρα Βαρβαρα, τι κάνεις;3)» und deren Antwort «ευχαριστώ, είμαι καλά4)» sind zu verstehen.
Ruhiger geht es in den «oberen Regionen» zu. Hoch am Himmel ziehen zwitschernde Schwalben elegant ihre weiten Bogen. Das ist ein gutes Zeichen. Es stellt für die nächsten Tage gutes Wetter in Aussicht. Vereinzelt kreuzen gurrend Tauben auf. Nicht viel zahlreicher sind von der Schnabel- bis zur Schwanzspitze kohlrabenschwarze Vögel. Raben sind es aber kaum. Dafür scheinen sie zu klein zu sein. Sind es Dohlen? Diese haben aber doch gelbe Schnäbel? Gelbrötliche haben die Seemöwen. Diese sind tagein und -aus optisch, und vor allem akustisch, die dominantesten. Auf einem Entlüftungsrohr thronend hat eine den höchsten Punkt der Dachlandschaft in Beschlag genommen. Ununterbrochen schnattert sie und gibt wohl bekannt, dass sie hier das Sagen hat. Wenn sie ihren Thron einmal verlässt, ist es nur für kurze Zeit, um mit Artgenossinnen trötend über ihrem Reich Runden zu ziehen.
Es ist dunkel geworden. Schrill miauend sorgen Katzen in einem Hinterhof für ihren Nachwuchs. Eine Autotür wird zugeschlagen. Am Himmel gewinnt der noch fahle Mond stetig an Farbe und silbern funkelnd erwachen die ersten Sterne. Konkurrenz bekommen sie von zwei parallel fliegenden Punkten. Einer ist grün, der andere rot. Von Athen kommend fliegt Flug 37154 mit etwas Verspätung den Kavala international Airport Megas Alexandros an, bevor es nach Alexandroupolis weitergeht. Apropos international Airport. Täglich landen und starten etwa 20., 24 Flugzeuge. Die meisten von und nach den grossen Zentren Athen und Thessaloniki. Plus – während der Urlaubssaison – die Ferienflieger aus den nördlicher gelegenen Gefilden Europas.
Zum besseren Verständnis:
*Kavala ist eine Handels- und Hafenstadt in Nordgriechenland
1 )Masoutis heisst eine genossenschaftlich organisierte Supermarktkette
2) Ouzo ist eine Anisspirituose
3) «καλησπέρα Βαρβαρα, τι κάνεις;» / «kalimera Varvara, ti kanis?» / «guten Abend Barbara, wie geht es dir?»
4) «ευχαριστώ, είμαι καλά» / «efcharisto, ime kala» / «danke, mir geht es gut»
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© 2022 Hans Peter Flückiger (Text und Bild)
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