Die Reling ist nass vom Regen

Von Mia Weinschenk

Die Reling ist nass vom Regen. Ich habe mir ein Stückchen trocken gerieben, auf dem ich mich gerade mit den Armen abstütze. Die Nordsee schlägt meterhoch gegen die Außenwände des Schiffes, versucht es wütend hin und her zu drücken, versucht mit ihm zu spielen. Gischt spritzt. Aber das Schiff ist zu groß und zu mächtig für die Natur, so hoch die Wellen auch sein mögen. Die Wände zu dick, die Stabilisatoren zu stark. Von außen gesehen ist das Schiff ein schrecklich schöner Anblick. Schön im Sinne von faszinierend, weil es aussieht als hätte man einen Wolkenkratzer waagerecht ins Wasser gelassen, schrecklich weil es eins der größten Beweise für die Kapitalsucht der Menschen ist, die es gibt.

Trotzdem schafft es die Natur nach wie vor, mich zu beeindrucken, aber in einem viel gesünderen Maße als das Schiff, auf dem ich gerade stehe. Die Gewalt der Wellen nötigen mir höchsten Respekt ab. Ich mag die See, genauso wie ich den Wind mag, und beides spielt gerade mit mir. Eigentlich spielt nur der Wind mit mir. Meine Haare werden mir ins Gesicht gepeitscht, und kaum hebe ich die Hand um sie wegzustreichen, werden sie wieder in eine andere Richtung gezerrt. Ich werde es schwer haben, sie später zu kämmen. Aber das ist mir die wilde Freude wert, die es in mir auslöst, mich den Elementen auszusetzten. Mit einem Lächeln lasse ich meinen Blick weiter in die Dunkelheit vor mir schweifen. Der Wind kann tun, was er will. Solange ich genügend Schutz habe jedenfalls, was in dem Falle gegen die See ein Riese von einem Schiff ist und gegen den Wind genügend Lagen an Jacken.
Andererseits würde ich wirklich nicht gerne dort unten im Meer schwimmen. Es ist 23 Uhr, und man kann das schmutzgraue Wasser nicht von dem tintenschwarzen Horizont unterscheiden. Einzig und allein die Schaumkronen blitzen für wenige Sekunden auf, wenn sich Wellen aneinander brechen. Der schneeweiße Schaum bildet einen krassen Kontrast auf dem dunklen Meer, sodass es fast aussieht, als würde er leuchten.
Der Nebel, der dazu noch herrscht, sorgt dafür, dass man keine dreißig Meter weit sehen kann. Danach ist Schwärze nicht mehr von oben und unten zu unterscheiden, nur ab und zu glimmen Schaumkronen durch die Dunkelheit, um gleich darauf wieder vom Wasser verschlungen zu werden.
Es sieht aus, als wären die Seelen der toten Seefahrer für diese Nacht auferstanden, um weitere Unglückliche in den nasskalten Tod zu ziehen. Irrlichter, die verwirren.
Ich beobachte die See und spüre eine tiefe Faszination für das, was vor mir liegt. Egal ob so etwas wie Gott oder ein anderer Herrscher es erschaffen hat, vielleicht war es auch die Natur ganz alleine, ich beuge mein Haupt vor ihm oder ihr.
Die Natur ist das Beeindruckendste was die Menschen kennen. Liebevoll und gleichzeitig mit großem Respekt beobachte ich die Gewalt, die unter uns wütet. Wie um mich zu bestätigen, schlägt mir eine Windböe ins Gesicht, die mir die Tränen in die Augen treibt. Ich blinzle. Respekt habe ich, aber keine Angst. So wie meine Eltern es mir immer eingebläut haben.
Aber menschliche Werke greifen danach, es der Natur gleichzutun. Das kann nicht gesund sein. Wir werden niemals so stark sein wie diese pure Kraft, die gerade um uns herum herrscht. Ich seufze, während ich an das Monster von Fortbewegungsmittel denke, auf dem ich mich gerade befinde, das meinen Gedanken Lügen zu strafen scheint. Mein Seufzen wird sofort vom Wind fort getragen. Und trotzdem probieren die Menschen es. Schon wieder ragt eine Welle direkt vor unserem Bug auf, aber das Schiff teilt sie mühelos entzwei und gleitet durch sie hindurch, während seine Passagiere nur ein leichtes Schaukeln spüren.
Mein Blick schweift wieder zu der Höhe, auf der ich den Horizont vermute. Die Schaumkronen leuchten auf und verschwinden wieder, wie Augen, die kurz geöffnet, und dann wieder geschlossen werden. Der Nebel steht stumm, dunkel und ewig über der unruhigen See wie ein schwerer Mantel. Er macht die ganze Szenerie unwirklicher und überzieht sie mit einem silbernen Schimmer. Der Wind zerrt an meiner Kleidung und an meinen Haaren, wirft sie hin und her. Wellen schlagen wütend gegen das Schiff und sich selber, um zu brechen und sich wieder von neuem zu erheben. Schaumkronen tanzen für wenige Sekunden auf den schaukelnden Spitzen. Es sieht ein bisschen aus wie der Inhalt eines Topfes mit kochendem Wasser, der drauf und dran ist überzukochen. Ich lehne an der Reling und beobachte fasziniert.

Urplötzlich geht ein Ruck durch das Schiff. Ich verliere ein wenig das Gleichgewicht und klammere mich an der Reling fest. Es hört nicht auf, stattdessen folgt ein weiterer Ruck, stärker als der vorherige, der durch das ganze Schiff fährt. Er ist so stark, dass ich seitlich von der Reling weg geschleudert und zwei Meter weiter von der Wand aufgefangen werde, die die Balkone trennt. Nach einem erstickten Schrei wird mir beim Aufprall die Luft aus den Lungen gepresst.
Ein dumpfes, langgezogenes Geräusch ertönt. Es ist ein qualvolles Stöhnen von zwei Kräften, die nicht gegeneinander wirken sollten, und scheint von unter der Wasseroberfläche zu kommen. Unser Schiff schiebt sich mit aller Kraft gegen oder über etwas, das ihm im Weg ist. Ein Beben fährt durch den Kahn hindurch, dann steht es still. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, was sich verändert hat. Das Meer schäumt nach wie vor, aber das Schiff teilt es nicht mehr, denn wir bewegen uns nicht mehr. Wir stehen still.

Ein Schiff sollte nicht plötzlich auf offener See still stehen.
Herzschläge lang passiert nichts. Alles ist ruhig. Nichts hat sich verändert. Langsam erhebe ich mich von meiner an die Wand gedrückten Lage und horche. Sehen tue ich nicht viel. Da ich auf meinem Balkon vor meiner Kabine stehe, sehe ich auch keine anderen Leute. Mein Herz galoppiert.
So zucke ich zusammen, als sich hinter mir die Kabinentür öffnet. Meine Mutter schaut mich mit aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht ist so weiß wie die Schaumkronen, dabei haben wir eigentlich beide einen robusten Magen. „Zieh dir deine wärmsten Sachen übereinander und komm. Schnell.“
Die unterdrückte Panik in ihrer Stimme springt auf mich über.
Ist unser Schiff gerade auf Grund gelaufen? Ich muss schlucken.
„Was ist denn los? Weißt du was?“
„Nein, ich habe auch nicht mehr mitbekommen als du. War draußen irgendwas?“
„Nein. Nur der Sturm.“
„Irgendwas ist nicht richtig. Zieh dich einfach schnell an.“
Ich trete in die Kabine, wo mich kuschlige Wärme empfängt. Erst da merke ich, wie durchgefroren ich war. Mein Bett wartet gemacht auf mich, ich wollte nur kurz vor dem Schlafengehen mir noch einmal die Wellen anschauen. Wie schön es wäre, sich jetzt dort reinlegen zu können, aber irgendetwas läuft hier gerade falsch. Die Decke meiner Mutter ist zurückgeschlagen, ihr Buch liegt offen daneben, die Seite verschlagen, wie in Hast weggeworfen. Sie steht daneben und zieht sich gerade einen Pulli über das Nachthemd.
Da ich schon warm angezogen war, versuche ich nur mein Oberteil gegen einen Pullover auszutauschen, aber sie hält mich mit einem Griff an mein Handgelenk auf. „Es ist scheiß egal in welcher Reihenfolge, mach jetzt einfach, du musst es warm haben. Und beeil dich!“, heischt sie mich an, während sie sich Stulpen über die Knöchel zerrt. Ich öffne den Mund um etwas zu erwidern, besinne mich etwas besseren und ziehe jegliche Schicht an, die ich finden kann. In dem Moment zerreißt ein Ton aus den Lautsprechern die angespannte Stille, durchdringend wie ein Nebelhorn. Sieben kurze Töne, ein langer. Das internationale Signal für Notfälle. Obwohl ich es erwartet habe, zucke ich zusammen und versuche, das Klingeln in meinen Ohren durch Reiben wegzubekommen, nachdem das Signal aufgehört hat. Mein Herz schlägt eilig vor sich hin. Dann ertönt der bekannte, freundliche Gong, der am Anfang jeder Durchsage kommt. Die Kapitänin fängt an zu sprechen. Ihre sonst so heitere Stimme ist angespannter, hektischer als sonst.
„Liebe Passagiere, aufgrund einer unerwarteten Störung möchten wir sie bitten, sich umgehend zu ihren Sammelstellen zu begeben. Sie finden ihre persönliche Sammelstelle an der Innenseite ihrer Kabinentür. Bitte ziehen Sie warme Kleidung an und nehmen sie wenn nötig wichtige Medikamente mit sich. Wenn Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte das Bordpersonal.
Der Crew ist ein Fehler unterlaufen, der allerdings schnell behoben sein wird. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, das Sammeln dient nur zur Sicherheit. Ich wiederhole, bitte begeben sie sich mit warmer Kleidung und eventuellen wichtigen Medikamenten zu ihrer Sammelstelle auf Deck 5. Dies ist keine Übung. Ich wiederhole, dies ist keine Übung.“ Es knackst, als die Durchsage beendet wird. Ich schlucke. Am Anfang von jeder Kreuzfahrt, die ich jemals gemacht habe, hört man das Notsignal zur Übung, und jeder muss ebenfalls an einer Übung zum Sammeln teilnehmen. Noch nie hatte ich den Fall, dass ich während einer Kreuzfahrt wirklich zu diesen Stellen muss.
„Sollen wir die Personalausweise mitnehmen?“, frage ich, einem plötzlichen Gedanken folgend.
„Ja. Gute Idee. Steck sie möglichst wasserfest weg. Und die Bordkarte auch. Aber lass alles andere hier.“, stimmt Mama mir zu, während sie den Reißverschluss ihrer Jacke schließt.
Als wir auf den Gang treten, ist es dort relativ voll. Überall wurden Winterjacken über Schlafanzüge gezogen. Kinder gähnen hinter vorgehaltenen Händen, einige stolpern an der Hand ihrer Eltern hinter ihnen her. Ein paar Leute tragen ihre Rettungsweste, dabei wurde davon gar nichts gesagt. Die neonorangenen Kästen um ihre Oberkörper teilen die Menge wie das Schiff noch bis vor wenigen Minuten das Wasser.
Wir lassen uns die Treppen herunter treiben, um dann bei unserer Sammelstelle neben einem Restaurant auszukommen, wo bereits eine Handvoll anderer Leute steht. Schweigend warten wir alle auf weitere Anweisungen. Das Gemurmel, das noch auf der Treppe geherrscht hat, ist hier verstummt. Crewmitglieder in blauen Anzügen laufen herum und rufen sich gedämpft Dinge zu.
Bis sich der Auflauf auf den Treppen aufgelöst hat, passiert nichts.
Alle Menschen sind auf ihre Plätze verteilt. Das Schiff schwankt leicht, aber viel weniger als vorher. Kindern fallen wieder die Augen zu. Mir wird warm in meinen vielen Schichten und ich öffne ein paar. Um mich abzulenken, höre ich auf das, was die Crew sich mit gedämpfter Stimme mitteilt.
„Auf 9 sind alle leer.“ „Auf 8 auch.“ „Hat jemand in den Restaurants geschaut?“ „Ja, da war keiner mehr.“ „Sind an den Sammelstellen alle komplett?“ „Ja, überall 50 Personen. Keiner fehlt.“ Jemand spricht etwas in ein Walkie-Talkie.
In dem Moment ertönt wieder der Gong, der eine Durchsage ankündigt. Blicke heben sich zu den Lautsprechern an der Decke, Kinder schrecken aus dem seichten Schlaf hoch.
„Liebe Passagiere, vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Da der Schaden etwas stärker ist als gedacht, werden unsere dazu ausgebildeten Mitarbeiter sie nun in die Rettungsbooten bringen, sodass sie als Gäste im Ernstfall gesichert sind. Es besteht nach wie vor kein Grund zur Beunruhigung, dies ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Vielen Dank für ihr Verständnis.“

Wir müssen in die Rettungsboote. Mein Blick kreuzt sich mit dem meiner Mutter, einen Moment lang teilen wir unsere Nervosität. Ein paar Leute verdrehen die Augen und gähnen. Viele werfen sich besorgte Blicke zu. Ein Baby fängt an zu weinen und man hört die Mutter es wieder in den Schlaf säuseln.
Die Crew übernimmt das Kommando und lotst uns Grüppchen für Grüppchen in Richtung Außendeck, wo die Rettungsboote hängen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eins von ihnen von innen sehen würde. „Was ist denn überhaupt los?“, ruft jemand von weiter hinten, aber keiner antwortet, wir wissen es ja selber nicht.
Als wir mit unserer Sammelgruppe nach draußen treten, schlägt mir der Wind ins Gesicht wie eine Faust. Mir schießen die Tränen in die Augen, ich kneife sie zusammen und senke den Kopf. Augenblicklich ist mir wieder kalt und ich schließe bibbernd meine Jacke. Hier draußen ist die Gewalt ganz anders als von dem Balkon aus, wo man von drei Seiten windgeschützt war. Der Sturm tobt weiterhin. Da wir jetzt fast auf der Höhe des Meeresspiegels sind, platscht immer wieder Gischt über die Reling. Alle drängen sich so weit wie möglich an die Außenwand, um nicht nass zu werden, denn es regnet auch nach wie vor.
Ein paar Plätze hinter mir rutscht jemand auf dem nassen Boden aus. Ich trete aus der Schlange heraus und strecke die Hand aus, um dem älteren Mann hoch zu helfen. Meine Mutter zieht mich an der Kapuze zurück zu sich auf unseren Platz, sodass ich stolpere. Ich schaue sie entrüstet an, aber sie schüttelt nur den Kopf.
Der Mann kämpft sich alleine wieder auf die Beine und stellt fest, dass seine Lücke in der Schlange geschlossen wurde. Nachdem ihm keiner vorlassen will, humpelt er an das Ende der Schlange, um sich erneut anzustellen. Er tut mir leid. „Warum?“, zische ich meiner Mutter zu und versuche ihre Augen in der Dunkelheit unter ihrer tief herunter gezogenen Kapuze zu erahnen. Sie schüttelt nur wieder resolut den Kopf, so viel erkenne ich selbst in der Dunkelheit. Aber mehr Antwort als das bekomme ich nicht. Ich schüttele ebenfalls den Kopf über sie und schnaube, was allerdings vom Wind weggetragen wird.
Die Schlange zu dem nächsten Rettungsboot wird immer kürzer. Alle klammern sich an ihre Jacken und haben die Kapuzen hochgeschlagen. Ich bin sehr froh, eine Jeans über meine luftige Schlafanzughose gezogen zu haben, denn selbst die ist inzwischen klamm und klebt an meiner Haut.
Ohne Vorwarnung gibt das Schiff plötzlich ein langes, tiefes Stöhnen ab, das aus seinem tiefsten Inneren zu kommen scheint. Und es bewegt sich.
Es ist wieder ein Ruck, das Metallungetüm scheint irgendwo dran abzurutschen. Die Menschen rudern mit den Armen, werden von den Füßen gerissen, nicht wenige fallen hin, ein paar haben sich irgendwo festgehalten. Ein paar schreien auf. Ein Rattern geht durch das Schiff hindurch, als würde es irgendwo drüber schaben. Der vordere Teil des Schiffes, in die Richtung in die ich gerade schaue, hebt sich an. Das sehe ich nur, weil die Wellen an dem Teil sich plötzlich nicht mehr auf Höhe der Reling brechen, sondern darunter. Die Seite auf der wir stehen, die Seite in die sich die Schlange verlängert, wird plötzlich um einiges nasser als vorher.
Für mich gibt es jetzt keine andere Erklärung. Das Schiff ist auf Grund gelaufen, wie auch immer das passieren konnte, und jetzt rutscht es gerade Stück für Stück zurück ins Meer. Mit uns darauf. Zum ersten Mal wird mir unsere Lage endgültig bewusst. Bisher war es eine leichte Vermutung, gedämpft durch den Vorhang der Müdigkeit, aber der zweite Ruck hat diesen weggerissen.
Wir sinken.
Dass ich das Schiff noch vor wenigen Minuten für stark und unbesiegbar gehalten habe, im ewigen, erfolgreichen Kampf gegen die Gewalt der Natur, scheint mir jetzt nicht mehr nachvollziehbar. Wie konnte ich die Natur derart unterschätzen?

Ist der Schiffbruch die Strafe für unser Greifen nach den Sternen?
Auf einmal verstehe ich, warum meine Mutter mich gerade aufgehalten hat, als ich aus der Reihe der Menschen treten wollte, um dem Mann zu helfen. Sie hat schneller als ich verstanden, um was es hier geht. Wir kämpfen gegen die Elemente.
Die Schaumkronen tanzen und verschwinden wieder und scheinen mich zu belächeln. Scheinen mich und alle Menschen zu belächeln. Unseren Versuch, gegen die Natur anzukommen, stärker als sie zu sein? Ist das der Beweis dafür, dass die Natur einfach so mit einem Zucken des Augenlids unsere Illusion, unsere Arroganz zerstören kann? Dass sie einzelne Schicksale nicht kümmert? Dass es ihr gleichgültig ist? Plötzlich muss ich an Titanic denken. Hielten die nicht auch ihr Schiff für unsinkbar, und hab ich nicht eben noch genau dasselbe gedacht?
Ich fange an zu zittern und spähe nach vorne. Die Schlange bis zu dem Rettungsboot kommt mir noch so unglaublich lang vor, obwohl die Crew schnell arbeitet. Das Schiff bewegt sich leicht, es neigt sich so, dass die Wellen immer mehr nach uns haschen. Sie lecken über die Wände des Schiffes und spritzen über die Reling, als würde ein Seemonster seine Tentakel nach uns ausstrecken. Ich drücke mich gegen die Wand, als könne ich damit verhindern, dass die Gischt mich durchnässt.
Und dann sind wir endlich dran. Die orangenen Kästen ragen vor uns auf, sie erinnern mich an die Rettungswesten. In dem Moment kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als jetzt in dieses Rettungsboot steigen zu dürfen. Ich halte meine Bordkarte unter den Scanner, und der Mann im blauen Anzug winkt mich mit einer knappen Handbewegung hinein. Von der üblichen auszeichnenden Höflichkeit ist keine Spur. Alle sind angespannt.
In dem Boot sieht es erstaunlich normal aus. Neonlichter flimmern auf mehrere Bänke, die mich an einen Schulbus erinnern, es gibt nur keine Fenster. Die Menschen sitzen dicht an dicht, ein weiteres Crewmitglied weist uns Plätze zu. Es riecht abgestanden. Hinter uns kommen schon die nächsten Leute in das Ding gekrochen.
Als wir sitzen, beruhigt sich mein Herz ein wenig. Das bleibt auch so, bis das Rettungsboot gefüllt ist.
Womit ich nicht gerechnet habe, ist dass der Mann, der uns draußen eingelesen hat, jetzt ebenfalls hereinkommt und sich auf das Pult vorne setzt, das von vielen Hebeln und Knöpfen umgeben ist.
Die Tür schließt sich. Auch befindet sich dort das einzige Fenster, durch das man gerade die beleuchtete Seite des Schiffes sehen kann, und den tiefschwarzen Himmel daneben. Zum ersten Mal wird mir bewusst, wie schräg das Schiff wirklich steht. Die Wand ist nicht länger senkrecht zu den aufblitzenden Wellen und Schaumkronen, wie es sein sollte, sondern neigt sich stark in Richtung Wasseroberfläche.
Der Mann am Steuerpult redet mit einer rauschenden, knackenden Stimme aus dem Funkgerät. Ein paar Herzschläge lang passiert nichts, nachdem sie ihr Gespräch beendet haben, dann bewegt sich plötzlich das Rettungsboot ebenfalls. Menschen keuchen auf, ich kralle mich an meinen Sitz. Aber es fühlt sich kontrollierter an als die Bewegungen des Schiffes. Dann registriere ich, dass unser Boot gerade ins Wasser gehoben wird. Wir bewegen uns über die Wasseroberfläche, die beleuchtete Wand des Schiffes verschwindet langsam aus dem Sichtfeld des Fensters.
„Sie geben das Schiff schon auf?“, flüstere ich meiner Mutter zu. Die schüttelt den Kopf. „Ich glaube, das machen sie auch sicherheitshalber.“
„Aber wenn man die Rettungsboote zu Wasser lässt, gibt man das eigentliche Schiff doch damit auf und erklärt es für unrettbar, oder? Ist das nicht sehr schnell?“
„Du weißt nicht, was los ist. Es könnte sein, dass es jeden Moment sinkt und der Captain uns das nur nicht sagt, weil er keine Panik möchte.“ Sie senkt die Stimme noch weiter. „Außerdem glaube ich, dass wir auf ein Riff aufgelaufen sind. Wie auch immer das passieren konnte, das Schiff kommt da nicht mehr weg und hat wahrscheinlich eine Menge Lecks.“, raunt sie mir zu. Gerüchte in die Welt setzen wollen wir beide nicht.
Mein Herz galoppiert und mein Mageninhalt scheint nur noch aus Eis zu bestehen. Aber es kann doch nicht sicherer sein als auf dem großen Schiff, wenn man uns jetzt in einer Nussschale in das kochende Wasser absetzt?
Wir schaukeln in dem kleinen Bötchen hin und her, obwohl uns die metallenen Arme geschmeidig herablassen. Wellen lecken gierig unter dem Boot nach ihm, wie Flammen nach vertrockneten Ästen. Obwohl wir noch nicht einmal auf dem Wasser sind, spürt man die Gewalt des schäumenden Meeres unter uns. Ich greife nach der Hand meiner Mutter und umklammere sie.
„Ich habe Angst.“ Sie drückt meine Hand, während das Boot tiefer und tiefer gelassen wird.
Dann werden wir losgelassen und sofort hat das Wasser ein neues Spielzeug gefunden. Wir schaukeln hin und her.
Es ist nichts gegen den Seegang, den ich auf dem Schiff gespürt habe. Ich muss meine Beine weiter auseinander stellen um mich besser abstützen zu können. Im Gegensatz zu dem Wolkenkratzer links von uns ist das hier eine Eierschale. Wellen klatschen gegen die Bootwände wie die Lappen an das Auto in einer Autowaschanlage, gleichgültig und gleichzeitig mit einer brutalen Gewalt. Sie schmeißen sich gegen die Wände, sodass ich bei jeder neuen Welle fürchte, die Wand wird mit einem Krachen eingerissen werden und wir sinken hoffnungslos für immer verloren auf den Meeresgrund. Meine Zunge klebt an meinem trockenen Gaumen, mein Mund schmeckt wie Staub, dabei bin ich von Wasser umgeben.
Die wenigen Sekunden Stille zwischen den einzelnen Wellen werden zu einem Albtraum, zu den Herzschlägen zum Luftholen, bevor man wieder die Lippen aufeinander presst und weiterhofft, dass die nächste Welle einen nicht zerreißen möge.
Ich halte die ganze Zeit die Hand meiner Mutter umklammert. Meine Knöchel sind weiß, so fest drücke ich. Die Leute um uns herum sind schon sehr grün im Gesicht, es schaukelt wie auf der Piratenschaukel auf der Kirmes, auf der ich vor Jahren mal war. Nur kann man nicht aussteigen.

Das Meer spielt mit uns, wird mir schlagartig bewusst. Mein nassgeschwitztes, gischt durchweichtes T-Shirt klebt mir am Rücken, mit dem ich mich in den Sitz drücke, um das Gleichgewicht zu halten.
Man hört die Wellen gegen die dünnen Plastikwände krachen und spürt die Gleichgültigkeit über unser Schicksal darin. Die raue See, die ich vom Kreuzfahrtschiff aus gesehen habe, war beeindruckend, angsteinflößend. Aber sie war weit weg. Wir waren sicher. Ich war sicher.
Jetzt sind wir das nicht mehr. Wir sind mitten in dem Element drin. Meine Definition von etwas ausgesetzt sein muss ich wirklich noch einmal überdenken.
Ich weiß nicht, was unser Schiff hat, was der Grund dafür war, dass wir es unverzüglich verlassen mussten und auf den Rettungsbooten in den Sturm gesetzt wurden. Aber ich glaube, man verlässt das Schiff nur, wenn es nicht mehr zu retten ist. Wir können also nicht zurück.
Dieses Rettungsboot ist alles, was uns von der See trennt, die es nicht interessiert, ob wir leben oder sterben. Sie hat schon so unendlich viele Seelen in den Tod gerissen, da kümmert es sie nicht, ob sie zwanzig mehr oder weniger hat. Sie ist kein fühlendes Wesen. Sie kann nicht empfinden, sie kann kein Mitleid verspüren. Sie kennt keine Gnade. Deswegen kann sie auch keine walten lassen. Unser kleines Boot ist wie die Maus, die in Todesangst vor der Katze flieht, so schnell sie ihre Beinchen tragen. Die Katze setzt geschmeidig, lautlos mit einem Sprung hinterher und hält sie mit einer Tatze auf den Boden gedrückt, während sie sich die andere Pfote putzt und die Maus nicht eines Blickes würdigt. Dabei ist diese dem Erstickungstod nahe. Die Maus sind wir gerade.
Ich kneife die Augen zu. Der Wind fegt die Wellen hoch und türmt sie auf, lässt sie tanzen und ringen, und wir sind mitten drin in diesem paranormalen Tanz.
Es hört nicht auf. Wir werden hier sterben.
Der Gedanke schießt wie ein Blitz durch mich hindurch. Wir werden hier sterben. Ich werde sterben. Meine Mutter wird sterben, und alle anderen in diesem Boot auch. Dieser schieren Gewalt können wir nichts entgegen setzen. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Und Wasser zu Wasser.
Die Menschen kommen aus der Natur. Wie kamen sie je auf die Idee, diese besiegen zu wollen? Gegen ihre Schöpferin anzukämpfen, sich mit ihr zu messen! Größer zu sein als sie! Mir schießen die Tränen in die immer noch zugekniffenen Augen. Wenn ich könnte, würde ich mich bei der See für all die Frevel, die die Menschen ihr angetan haben, entschuldigen, tausendfach, aber ich weiß, dass selbst mein Tod nichts ändern wird. Die Menschheit hat das Meer nie gezähmt, genauso wie man keinen Berg bezwingen kann, indem man ihn besteigt. Der Berg hat euch ziehen lassen. Er hat euch gesehen und gehen lassen, ohne euch zu bewerten. Wenn euch ein Steinschlag getroffen und die gesamte Gruppe umgebracht hätte, hätte ihn das genauso wenig berührt als wenn ihr gesund wieder von ihm herunter steigt. So ist es mit der See auch. Sie ist hart, weil sie nach keinen Kriterien wählt.
Und wenn Menschen glauben, dass sie härter sind, dann haben sie sich getäuscht. Das wird uns gerade wieder einmal bewiesen.

Mir wird bewusst, dass ich mich mit diesen Gedanken gerade selber dem Tode verurteile. Überlebenswille und Verzweiflung bäumt sich in mir auf.
Ich wollte doch noch so viel machen! Ich hatte noch nie einen Freund, ich will Schriftstellerin werden, ich muss meiner Katze noch sagen wie sehr ich sie liebe, auch wenn sie tote Mäuse mitbringt, ich kann noch nicht gehen! See, lass mich frei!
Ich schluchze auf, was mich selbst überrascht. Als ich die Augen öffne, stelle ich fest, dass mein Gesicht tränennass ist. Vor dem Fenster vor dem Steuermann, der versucht, das Boot auf irgendeinem Kurs zu halten, ist es schwarz als hätte jemand ein Tuch davor gehangen. Ich blicke mich um, um zu sehen, wie die anderen damit umgehen, während ich mein Gesicht ein bisschen trocken reibe.
Eine Menge Leute haben die Arme um die Knie geschlungen, viele halten ihre Kinder umklammert, nicht wenige sitzen einfach mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen da wie ich, in der Hoffnung, dass es bald vorbei sein möge. Eine Person hat den Kopf zwischen die Knie geklemmt, ein anderer ist algenfarben im Gesicht und hält sich die Hand vor den Mund. Schnell gucke ich weg. Geräusche hört man über den Lärmpegel hier sowieso nicht.
Meine Mutter hat mich beobachtet, und als sich unsere Blicke kreuzen, lächelt sie mich von einem schneeweißen Gesicht aus an. Ich lächele zurück. Es sieht bestimmt so aus, als hätte ich gerade eine Zitrone gebissen.
Sie muss ja nichts von meinen Gedanken wissen.

Es endet nicht. Ich kann im Nachhinein nicht sagen, was das Schlimmste war, die Phase wo ich noch wach war, oder wo ich mich vor Müdigkeit nicht mehr gerade halten konnte und zwischen Realität und Traum hin und her geschwankt bin. Um dann aufzuschrecken, wie im Fieberwahn festzustellen dass alles real war, und in Todesangst erstarrt zu verharren, bis der Schlaf einen wieder in seinen schweren Mantel hüllt.
Ich weiß nur noch, dass auf einmal, als ich aufgewacht bin, die Wellen nicht mehr so stark waren. Sie gluckerten fröhlich an unsere Seite. Danach fiel mir auf, dass durch das Fenster vorne Sonnenlicht fiel.
Ich war noch nie so glücklich, die Sonne zu sehen.

Rettungskräfte ziehen einen nach dem anderen auf ein weißes Boot mit rotem Kreuz. Tee und Kakao wird ausgeteilt, Pulse geprüft und Decken verteilt. Unzählige weitere orangene Kästen treiben um uns herum im Wasser, aus denen nach und nach ebenfalls Menschen gezogen werden. In der Ferne sieht man nur noch weniger als die Hälfte unseres Kreuzfahrtschiffes aus dem Wasser ragen. Es ist wirklich auf Grund gelaufen, auch wenn sich keiner erklären kann warum.

Die Morgensonne überzieht das spiegelglatte Wasser mit Goldpartikeln, sodass es blendet. Die See liegt königsblau und endlos da. Friedlich und gewährend.

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