Von Johannes Morschl
Berlin, Mittwoch 15.07. 2020, nach 22 Uhr. Haderer sitzt an seinem Laptop, raucht eine selbstgedrehte Zigarette und trinkt ein Gläschen Wodka. Er spricht in das Zimmer, in dem sich außer ihm niemand befindet: „Verkehrtes, nein, verehrtes nicht vorhandenes Publikum! Ich habe mein Leben lang damit gehadert, in dieses Tollhaus, das sich Menschenwelt nennt, hineingeworfen worden zu sein, weshalb mein Name Haderer absolut passend für mich ist. Meine Art- und Zeitgenossen kann ich nur noch mit ganz wenigen Ausnahmen ertragen. Je länger ich mir das Gelabere von jemandem anhören muss, desto mehr ödet es mich an. Ich schalte dann innerlich ab und denke nur noch an Flucht. Da ich aber in Elternhaus und Schule in Wien zu höflichem Benehmen gedrillt wurde, fällt es mir schwer, mich rechtzeitig zurückzuziehen, was ungesund ist, und dann beginne ich Unsinn zu reden, um mich des Unsinns, den die oder der Andere von sich gibt, mit noch größerem Unsinn zu erwehren. Paradoxer Weise bin ich deshalb bei manchen Leuten beliebt. Sie wären schwer enttäuscht von mir, wenn ich eines Tages keinen Unsinn mehr reden würde. Bin am Überlegen, ob ich meine Strategie ändern soll und nur noch ganz banales, langweiliges Zeug reden soll, wie zum Beispiel vom Wetter.
Dazu fällt mir ein altes Plakat vom SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, aus der Zeit um 1968 ein. Darauf sieht man die Konterfeis von Marx, Engels und Lenin, und darunter steht: Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Auf einem neuen Plakat von mir würde man nur mein Konterfei sehen, selbstverständlich mit der gegenwärtig obligaten Corona-Vermummung, und darunter würde stehen: Alle reden vom Wetter. Ich auch. Oder besser noch I aa, was Ich auch auf Wienerisch heißt und an einen Eselslaut erinnert.
Ich begebe mich ohnehin nur noch selten in die Öffentlichkeit. Allein schon das Wort Öffentlichkeit ist mir suspekt. Zu Öffentlichkeit assoziiere ich spontan öffentliche Toiletten, wobei ich sagen muss, dass die alten Pissoirs, die noch aus der Zeit um 1900 stammen und von denen ich in Wien, Paris und Berlin noch einige angetroffen habe, durchaus einen gewissen architektonischen Charme haben, aber wehe, der Druck auf der Blase treibt einen da hinein. Der Gestank drinnen ist im wahrsten Sinne des Wortes ätzend. Ich musste mir beim Pinkeln immer mit einer Hand die Nase zuhalten.
Wenn ich mich in der Öffentlichkeit befinde, habe ich manchmal den Eindruck, dass es nur so von psychisch Gestörten wimmelt. Nun muss ich allerdings gestehen, einst selbst in psychotherapeutischer Behandlung gewesen zu sein. Lebte da noch in Wien, war gerade mal Zwanzig. Machte die Therapie bei einem unorthodoxen Psychoanalytiker, der sich fast ausschließlich nur für mein Sexualleben interessierte, das zu jener Zeit ziemlich chaotisch war, aber was heißt zu jener Zeit, später war es auch nicht viel anders. Hatte den Eindruck, er geile sich daran auf. Aber immerhin belästigte er mich nicht mit der bei Psychoanalytikern beliebten Frage: ‚Was fällt Ihnen dazu ein?‘ Und wenn man antwortet, fragen sie wieder: ‚Was fällt Ihnen dazu ein?‘ Deshalb dauert eine Psychoanalyse oft jahrelang. Das war bei meinem Analytiker anders. Nachdem er ausführlichst mein Sexualleben durchleuchtet hatte, schien es ihm mit mir langweilig zu werden und er erklärte die Therapie nach etwas über einem Jahr für beendet. Ich war zunächst schwer enttäuscht und fragte mich, ob ich ihm zu wenig geboten hätte, kam aber schließlich darüber hinweg.“
Haderer lehnt sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und sagt: „Ja, ja, die gute alte Zeit, hatte immer nur Sex und Revolution im Kopf gehabt. Aber was soll’s, für mich ist sowieso bald alles vorbei, bin ja schon über Siebzig.“ Er dreht sich eine neue Zigarette und gießt sich ein zweites Gläschen Wodka ein.
Berlin, Freitag 17.07. 2020, gegen Mitternacht. Haderer sitzt an seinem Schreibtisch, trinkt ein Becks und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Er sagt zu der kleinen tönernen Figur des Caganers, des katalanischen Scheißerchens, die vor ihm auf einem Stapel von drei dicken Büchern zur deutschen Sprache steht: „Begab mich heute nach längerer Zeit wiedereinmal in die Öffentlichkeit. War im DODO bei Harald und Rolf. Die beiden gehören zu den wenigen Zeitgenossen, die ich noch ertragen kann. Sie sind für mich zwei wahre He-Hi-Hus, das heißt Menschen mit Herz, Hirn und Humor. Wir saßen draußen neben dem Lokaleingang, wobei Rolf oder Harald manchmal aufstanden und die Gäste bedienten. Innen-Gastronomie war ja durch die Corona-Verordnungen verboten, ebenso Veranstaltungen in Innenräumen, was das DODO besonders hart traf, da es hauptsächlich von Veranstaltungen, unter anderem von Auftritten von Musikern lebte. Auch die offene Lesebühne konnte nicht mehr stattfinden. Sie fand zwar auf meine Anregung hin seit April noch digital auf der Website des DODOs statt, aber das brachte dem DODO keine Einnahmen.
Es saßen nur wenige Gäste an den Tischen im Freien, was vermutlich am kühlen Wetter lag. Aber immerhin regnete es nicht. Als ich kam, spielten zwei Musiker vor dem DODO, die sich Die Anonymen Ukuleliker nennen. Sie spielten und sangen auch das alte italienische Partisanenlied Bella Ciao. Ich war begeistert, erinnerte mich an meine Jugendzeit, als ich Revoluzzer war. Da hatten wir das oft gesungen. Nachdem die Anonymen Ukuleliker weg waren, – sie hatten noch einen anderen Termin -, tauchte Werner auf, ein großer schlanker Jazz-Saxophonist und Sänger, und spielte und sang vor dem DODO jazzige Lieder auf Englisch. Die Idylle wurde nur einmal von einem jungen Besoffenen gestört, der die Gäste äußerst aufdringlich um eine Zigarette anschnorrte. Da ihm zunächst niemand eine geben wollte, wurde er immer lauter und aggressiver. Aber dann gab ihm ein älterer Mann um des lieben Friedens willen eine Zigarette, worauf er uns in Ruhe ließ und laut fluchend weiterzog. Harald und Rolf erzählten, der Typ komme mehrmals am Tag vorbei. Sie seien total genervt von ihm.“
Berlin, Samstag 18.07. 2020, kurz vor Mitternacht. Haderer berichtet seinem Caganer: „War heute Abend wieder im DODO. Kommt bei mir äußerst selten vor, zwei Tage hintereinander in der Öffentlichkeit zu erscheinen. War aber schönes Wetter und auch abends noch warm. Am U-Bahnhof Mehringdamm, wo ich ausstieg, kam mir ein langer dünner, heruntergekommen aussehender Mann so um die Dreißig entgegen. Er bettelte mich höflich mit trauriger leiser Stimme um etwas Kleingeld an. Merkwürdigerweise kam er mir wie ein jüngerer Doppelgänger von mir vor, mit dem es das Schicksal nicht gut gemeint hatte. Ich gab ihm das ganze Kleingeld aus meinem Portemonnaie, waren etwa drei, vier Euro. Er bedankte sich mit trauriger leiser Stimme und schlich davon.
Im DODO saß ich wieder draußen neben dem Lokaleingang an einem Tisch mit Harald und Rolf. Der junge Besoffene von gestern kam wieder vorbei, um eine Zigarette zu schnorren, war jedoch diesmal friedlicher, da er gleich eine bekam, und verschwand, ohne zu fluchen. Auch spielte und sang wieder Werner jazzige Lieder auf Englisch. Zum Abschluss sang er die Moritat von Mackie Messer, wobei er zwischendurch auf dem Saxophon Jazz-Variationen zur Song-Komposition von Kurt Weill spielte. Harald, Rolf und ich sangen halblaut mit.
Dann kam ein Autor, den ich von der offenen Lesebühne im DODO kannte, wenn auch nur oberflächlich. Er setze sich neben mich. Nach anfänglichem Schweigen kam es zu einer regen Unterhaltung zwischen uns. Dabei kam er mir allerdings manchmal mit dem Gesicht zu nahe, sodass ich befürchtete, Speicheltröpfchen von ihm abzubekommen. (Draußen musste man keine Atemschutz-Maske tragen.) Ich rückte ein Stück mit dem Stuhl von ihm ab. Als er irgendwann eine Bemerkung machte, die eine gewisse Sympathie für die AFD erkennen ließ, die seiner Meinung nach zu Unrecht in die rechtsradikale Ecke gestellt werde, ging bei mir der Vorhang runter. Gleich nachdem er gegangen war, suchte ich die Männertoilette des DODOs auf, wusch mir gründlich Hände und Gesicht und spülte mir den Mund mit kaltem Wasser aus. Brauchte dieses Reinigungsritual nach der Begegnung mit dem offenbar rechtslastigen Kollegen.
Ein paar Minuten vor 22 Uhr hielt ein Taxi vor dem DODO, aus dem völlig abgehetzt ein Musiker namens Hannes stieg. Er holte aus dem Kofferraum des Taxis seine Gitarre und setzte sich auf den freigewordenen Stuhl neben mir. Dann spielte und sang er drei, vier Lieder des 1991 verstorbenen vollschlanken Kölschen Originals Trude Herr, darunter auch ihr bekanntestes Lied mit dem Refrain: Ich will keine Schokolade, / ich will lieber einen Mann, / ich will einen, den ich küssen / und um den Finger wickeln kann! Länger als bis etwa eine Viertelstunde nach 22 Uhr durfte er aber nicht spielen, da Straßenmusik eigentlich nur bis 22 Uhr amtlich gestattet war. Außerdem hätten sich Bewohner des Hauses in ihrer Nachtruhe gestört fühlen können und die Polizei herbeirufen können. Rolf erzählte, dass einmal aus einem oberen Stockwerk Wasser auf die spätabends vor dem DODO sitzenden und sich rege miteinander unterhaltenden Gäste geschüttet wurde.“
Haderer beginnt zu gähnen, sagt zu seinem Caganer „Bona nit!“, was „Gute Nacht!“ auf Katalanisch heißt, und geht zu Bett.
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© 2022 Johannes Morschl
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(Aus der Erzählung Haderer/Corona von 2020)