Von Michael Metzger
Das Kind gesellte sich zu dem Alten in die Stube. Im Kamin loderte ein Feuer, das an diesem kalten Wintertag die gemütliche Wohnung mit einer wohligen Wärme erfüllte. Der Alte lächelte das Kind freundlich an. Es fühlte sich willkommen und sicher.
„Worüber denkst du nach?“, fragte das Kind den Alten neugierig. „Über die Zukunft“, erwiderte dieser. „Über die Zukunft?“, fragte das Kind erstaunt. „Aber du bist doch schon alt…“, platzte es aus ihm heraus. Der Alte lächelte milde über diese unverblümte Äußerung, die er selbstverständlich als Ausdruck von kindlicher Unschuld verstand und sich daher nicht gekränkt fühlte.
Tatsächlich befand er sich bereits in sehr fortgeschrittenem Alter. Er war inzwischen so alt geworden, dass er keine großartigen Pläne für seine Zukunft mehr schmieden wollte. Er fühlte tief in sich bereits die Gewissheit, dass ihm nur noch eine überschaubare Zeitspanne zur Verfügung stand, auch wenn er sich immer noch bester Gesundheit und für sein Alter sehr hoher Vitalität erfreute.
„Nun aber! So alt bin ich doch noch gar nicht“, tadelte der Alte das Kind scherzhaft. Seine Augen funkelten dabei spitzbübisch. „Aber ich denke tatsächlich nicht so sehr an meine eigene Zukunft. Vielmehr denke ich an deine Zukunft und an die Zukunft aller Menschen. Ich denke über die Zukunft der ganzen Menschheit nach.“
„Und was genau denkst du?“, wollte das Kind sofort wissen.
„Nun, ich bin kein Hellseher. Ich kann dir nicht sagen, was genau die Zukunft bringen wird, sondern nur das, was ich mir für die Zukunft wünsche.“
„Das wäre ja auch langweilig, wenn du schon alles wüsstest!“, entgegnete das Kind neunmalklug. „Aber bitte, bitte erzähle mir, was du dir wünschst!“, bettelte es.
„Nun gut“, hob der Alte an. „Ich wünsche mir eine Welt, in der die Menschen in Demut und in Bescheidenheit leben, allerdings ohne, dass sie sich klein machen und ihre wahre Größe verstecken. Ich wünsche mir, dass sie voller Mitgefühl für ihre Mitmenschen sind. Vor allem wünsche ich mir, dass sie voller Freude und Leichtigkeit leben; dass sie Dinge tun, die ihr Herz erfreuen und dass sie diese Freude mit anderen Menschen teilen. Ich wünsche mir, dass sie aus innerem Antrieb heraus handeln, und nicht, weil sie unter äußerem Druck stehen. Ich wünsche mir, dass sie sich stark und mutig genug fühlen, um das zu tun, wonach sich ihr Herz sehnt und dass man ihnen die Freiheit gewährt, ihrer Sehnsucht zu folgen. Aber ebenso wünsche ich mir, dass sie rücksichtsvoll und mit Wohlwollen handeln und, obwohl sie beherzt ihrem eigenen Weg folgen, nicht in einen ungezügelten Egoismus abgleiten.“
Der Alte beendete seine Ausführungen und schwieg dann für einen kurzen Moment. Das Feuer im Kamin schlug hohe Funken und das brennende Holz knackte laut. „Nun erzähle du mir, was du dir für die Zukunft wünschst“, brach der Alte schließlich sein Schweigen.
Das Kind, das dem Alten geduldig zugehört hatte, überlegte zunächst kurz. Dann sprudelte es aufgeregt los: „Ich wünsche mir auch die Dinge, die du dir wünschst und ich wünsche mir noch vieles mehr. Wenn ich groß bin, möchte ich um die ganze Welt reisen. Ich möchte Freunde überall auf der Welt haben, die ich in ihrer Heimat besuchen kann. Und wenn wir uns nicht sehen können, dann sprechen wir über das Telefon oder über das Internet.
In der Zukunft lebe ich mit meinen Eltern und Geschwistern in einer schönen Nachbarschaft – noch viel schöner als sie heute schon ist. Es gibt viele Bäume und großartige Parks, in denen viele Kinder spielen, herumtollen und vor Vergnügen kreischen. Sie sind dort mit ihren Eltern oder Großeltern und Freunden unterwegs. Am Wochenende sind alle Parks voll mit Familien. Eltern, Kinder und Großeltern sitzen zusammen, essen, trinken und lachen. Freunde treffen sich und verbringen friedlich eine schöne Zeit.
Die Häuser in der Zukunft sind modern und wirken freundlich. Wir Kinder lernen viele spannende Dinge. Entweder von unseren Lehrern oder über das Internet, wo wir uns vieles selbst beibringen oder von anderen Menschen lernen können. Ich kann mich jederzeit mit Menschen aus der ganzen Welt im Internet treffen, um mehr über das zu erfahren, was mich fasziniert. Das Lernen macht mir großen Spaß. Denn ich darf selbst mitbestimmen, was ich lerne und meine Eltern und Lehrer helfen mir, meine Talente zu entwickeln. Außerdem darf ich so viele Fragen stellen, wie ich möchte.
Obwohl ich moderne Technologien nutze, bin ich auch viel draußen in der Natur. Ich liebe es, durch den Wald und die Berge zu gehen oder entlang eines Flusses zu spazieren. Die Menschen in der Zukunft wissen die Natur zu schätzen und gehen sehr sorgsam mit ihr um. Deshalb geht es den Wäldern und Flüssen in der Zukunft gut. Sie sind gesund.
Die Menschen, denen ich jeden Tag begegne, sind friedlich, freundlich, fröhlich und entspannt. Sie haben große Freude am Leben. Sie kommen gerne mit anderen Menschen zusammen, um eine schöne Zeit zu verbringen. Sie helfen einander gerne und selbstverständlich. Ich sehe die Straßen meiner zukünftigen Nachbarschaft vor mir und alles scheint gut zu sein. Die Leute haben ihren Platz und gehen ihren Beschäftigungen nach – unbeschwert und zufrieden. Das ist eine Zukunft, die ich mir wünsche!“
Der Alte hatte sehr aufmerksam zugehört und immer wieder bestätigend genickt. Nun sah er dem Kind direkt in die Augen, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: „Das klingt wirklich wunderbar! Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die Dinge so kommen werden und diese Zukunft wahr wird.“
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© 2022 Michael Metzger
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