«Komm herüber nach Mazedonien»

Von Hans Peter Flückiger

Golden schimmert das grosse Mosaik vor der Kirche Agios Nikolaos in Kavala* in der Morgensonne. Seit dem Jahr 2000 steht es dort und erinnert an den Apostel Paulus, der auf einer seiner Missionsreisen im Jahr 49 nach Christus hier zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben soll. Der Heilige Paulus ist darauf doppelt abgebildet. Links schlafend an die Stadtmauern von Troja lehnend. Im Traum begegnet ihm ein Mann, der ihm zuruft: «Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!» Rechts sieht man Paulus – aus einem Segelschiff steigend – bei seiner Ankunft in Neapolis, wie Kavala damals hiess. Nachzulesen sind diese Geschehnisse in einem der Bücher der Bibel, im 16. Kapitel der neutestamentlichen Apostelgeschichte. Zusammengefasst steht dort, dass Paulus und seine Wegbegleiter schon einige Zeit in Kleinasien – der heutigen Türkei – unterwegs waren. Zuletzt in der Troas, wie zu Beginn unserer Zeitrechnung der nordwestlichste Teil Kleinasiens – südöstlich der Meerenge der Dardanellen und nördlich der Insel Lesbos – hiess. Aber was sie sich anscheinend auch vornahmen, ein ungutes Gefühl im Bauch hinderte sie, das Vorhaben in Angriff zu nehmen. Der Einladung übers Meer nach Mazedonien konnten sie dagegen ohne innere Widerstände folgen.

Bald ging es per Schiff los. Wie damals wohl üblich, segelten sie die Küste entlang. Das ermöglichte, bei schlechtem Wetter oder vor dem Einnachten einen sicheren Hafen anlaufen zu können. Abgesehen davon, dass man ja nicht genau wusste, wo die Erdscheibe endete und man Gefahr lief, über deren Rand hinunterzufallen.

Anscheinend ging es auf der Reise aber flott voran. Überliefert ist, dass es zügig voranging. Einzig ein kurzer Zwischenhalt auf der Insel Samothrake ist vermerkt. Vielleicht reichte es, einen Blick auf die Statue der Siegesgöttin Nike zu werfen oder ein Bad in einer der heissen Quellen in einem der Platanenwälder zu nehmen. Schon am folgenden Tag ging es nach Neapolis und von dort weiter nach Philippi.

Um dorthin zu gelangen ging es von Neapolis aus erst einen Kilometer über die Via Egnatia, die antike Hauptverbindungsstrasse, bergan. Hoch, dorthin, wo die Gebirgszüge Symvolon und Lekanis sich berühren. Wohl eine unbebaute, karge Gegend. Nicht einmal das Kloster Agios Silas – benannt nach einem der Wegbegleiter des Paulus – stand. Heute geht dort die Egnatia Odos (Autobahn A2) Thessaloniki – Xanthi – Alexandroupolis durch, und das neue Krankenhaus von Kavala thront über der Stadt. Wenn die Sicht gut war, konnte Paulus in der Tiefebene unten aber das noch etwa 15 Kilometer entfernte Reiseziel erkennen.

Wer, im Gegensatz zu Paulus damals, heute keine Mission zu erfüllen hat, muss sich nicht so sputen. Und es lohnt sich, in Kavala noch etwas in der Kirche Agios Nikolaos zu verweilen und sich mit deren bemerkenswerten Geschichte zu befassen. Das heutige Gebäude stammt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Erbaut als Hauptmoschee, zentral, gleich beim Markt gelegen und Teil der Imaret-Anlagen mit Moscheen, Medressen (Institutionen, in der islamische Wissenschaften gelehrt werden), Armenhäusern, Herbergen, Bädern und Geschäften. Benannt wurde sie nach Ibrahim Pascha, der um 1530 als Wesir (Regent) und Schwager von Süleyman dem Prächtigen in Neapolis das Sagen hatte.
Um 1926 wurde die Moschee zur Kirche umgestaltet. Dabei wurde das Äussere des Gebäudes im islamischen Baustil erhalten, ausser dass, wo einst das Minarett stand, heute ein Glockenturm in den Himmel ragt. Nach Anbauten ist die Kirche heute dreischiffig. Das linke Kirchenschiff ist nach Agios Ioannis Chrysostomos, das rechte nach Agios Dimitrios und das Mittelschiff nach dem Hauspatron Agios Nikolaos benannt. 1945 wurde sie eingeweiht und dem Heiligen St. Nikolaos, dem Beschützer der Seefahrer, gewidmet. Agios Nikolaos ist aber nicht die erste Kirche an dieser Stelle. Vor der Moschee stand dort eine frühchristliche Basilika, mutmasslich zu Ehren des Apostels Paulus oder des Heiligen Lazarus.

* Kavala ist eine Handels- und Hafenstadt in Nordgriechenland mit etwa 70 000 Einwohnern

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© 2022, Hans Peter Flückiger (Text & Bild)
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