Man darf Wein trinken – aber bitte mit Maßen!

Von Michael Wiedorn

Herr Doktor K. sitzt mit seinen Gästen bei einem Gläschen Weißwein. Er nippt in kleinen, ganz kleinen Schlückchen an seinem Glas und stellt es mit fast zeremonieller Geste wieder auf den Tisch. Er und sein Besuch haben schon längst ihr Glas ausgetrunken. Vorerst bleiben die Gläser leer. Der Kopf muß klar und nüchtern bleiben. Die Gefilde von Wahn und Trunkenheit drohen den Menschen immer wieder zu verschlingen. Herrn Doktor Ks´ Oberkörper wird bis zum Kinn von einem nüchtern weißen Rollkragenpullover verborgen. Herr Doktor K hält nichts von der heute überall zu beobachtenden Überschätzung des Körpers. Die Menschen sollten sich mehr an ihren Grips halten. Herr Doktor K hebt die Flasche und fragt seinen Gast, ob er noch ein Schlückchen möchte. Der Gastgeber schenkt vorsichtig ein. Herr Doktor K hütet die Grenzen des Genusses, damit nicht die Furien von Rausch und Traum uns unsere Menschlichkeit zerschlagen. Er achtet genau, daß in beiden Gläsern der Rand der Flüssigkeit auf gleicher Höhe steht. Beim Vergleich der Pegelhöhe kneift er seine Augen zusammen. Er vollzieht eine Zeremonie des maßvollen Weingenusses. Es ist ein anderes Weintrinken. Ein hanseatisch-protestantischer Gegenentwurf zur heute weltweit um sich greifenden Enthemmung. Wir sitzen kerzengerade auf dem Stuhl, den Rücken an die Rücklehne gestützt. Wir sitzen uns gegenüber wie in sich eingesperrte und erstarrte Puppen. Den Rücken kerzengerade an der Lehne. Nur unsere Sprechwerkzeuge leisten sich so etwas wie Bewegungen. Niemand steht plötzlich auf, niemand lacht laut auf, stößt heftige Töne aus, benimmt sich unbeherrscht. Herr Doktor K hält seine Arme im rechten Winkel auf die Lehnen, seinen Rücken unnatürlich versteift, daß man ihn für einen Querschnittsgelähmten im Rollstuhl halten könnte. Körper und Gesicht sind gelähmt. Nur die dürren, auf das Notdürftigste reduzierten Lippen lassen Worte aus dem Inneren der Hirnschale in die Außenwelt entweichen. Wir sind nur Köpfe, die auf versteinerte und verhärtete Leichen aufmontiert sind. Herr Doktor K spricht mit seiner trockenen, kalten Stimme und die Welt schrumpft zu Dörrobst und nacktem Staub zusammen. „Glotzt nicht so romantisch!“ Die präzis zugreifenden Begriffe sind Messer und Zangen, die dem Leben das Fleisch abschälen. Was ist der rationale Sachgehalt? Die Welt ist doch nichts weiter als eine unübersichtliche Anhäufung von klar benennbaren und meßbaren Gegenständen. Wir bewundern Herrn Doktor K wegen der Nüchternheit seiner Weltsicht – wegen der Sachkenntnisse in Fragen, die den Alltag moderner Menschen betreffen. Geld, Politik, Moral. Er hält nichts von altmodischer Romantik, die allein bei der Erwähnung der hehren Götter und Helden der Hochkultur in Verzückung gerät und vor den Fenstern des feinen Bibliothekszimmers marschiert die SA. Geld, Politik, Moral. Vermögende, alte Damen, deren umfassende Finanzen er verwaltet, tragen ihn verehrend auf den Händen und flüstern begehrend „Herr Doktor“ in sein Ohr und fühlen sich trotz ihres stattlichen Alters als Töchter eines allmächtigen Vaters. Ein allwissender Vater, vor dessen sittlicher Reife wir uns alle schämen. Die Meisten von uns bleiben doch immer ihr ganzes Leben lang dumme Kinder. Naschhaft, gierig, lüstern – unfähig sich als Glied der Menschheit zu fühlen. Unreife Kinder verharren ihr Leben lang in kindischen Träumereien und Vorurteilen, das beweist doch der tägliche Blick in die Zeitung, das zeigen die geballten Irrwitzhandlungen und irrationalen Gewalttaten in der gesamten Weltgeschichte und Kultur. Die Menschen brauchen die wohltätige, starke Hand aufgeklärter, wertorientierter Fachkapazitäten. Auch, wenn es einem im Herzen weh tut, einen Menschen hinter Gittern zu halten oder einem schreienden und tobenden Patienten ein kleines, ganz kleines Stückchen Hirn mit Skalpell und Messer heraus zu schneiden. „Ich glaube kaum, daß Sie das beurteilen können.“ Nach dem niedlich kleinen Schnitt sind sie wieder kleine, unschuldige Kinder. Ruhig und pflegeleicht wie Topfpflanzen. Der Träumende muß aus seinen Träumereien, der Begehrende aus seinen Begierden zur Härte der Tatsachen befreit werden, zu tätigen Menschen, die zur Verbesserung der Welt beitragen. Herr Doktor K bewundert den Idealismus junger Leute, die mit reinem Herzen die Menschen verändern wollen. Ja – er war selbst, als er jung war sogar Kommunist. Er sympathisierte mit der Kommunistischen Partei. Er war nie Mitglied – so klug war er schon damals. Man muß mit der Zeit gehen. Man muß alles Überholte und Verstaubte schnellstens über Bord werfen. Man muß jung bleiben. Der Dschungel aus Wahn und Dummheit muß gerodet werden. Unbarmherziges Licht überstrahlt Betonebenen, in denen sich nichts und niemand verstecken kann. Eine von Menschen für Menschen hergestellte Welt. Die Erde muß menschlicher werden. Träumer prallen aus ihren Hirngespinsten auf harten, trockenen Stein, auf daß ihre Träume in Gestalt von Blut den Asphalt rot färben. Begehren vertrocknet zu ruhelosem Gram. Man gibt solchen Opfern die Chance den Weg zu einem behaglichen Leben zu finden. Die Menschen müssen zu ihrem Glück gezwungen werden. Sogenannte Dichter und Denker, Benebelte und Verrückte liegen zusammen gekrümmt und splitternackt auf ihren Pritschen und starren und glotzen auf ihren beschissenen Nabel wie Wahrsagepriester auf Vögel und Eingeweide, aber mit dem Daumen im schwachsinnig geöffneten Maul, bis der Nabel sich öffnet und der Darm kranke und wirre Fieberbilder von Krieg und Verbrechen in die Welt jagt um alles Leben auf der Erde zu zerstören. Die Traumen, Träume, Neurosen warten und ticken tief in den Eingeweiden und Gesundheit ist es sie unter einer Betondecke abzuriegeln. Man muß lernen von sich abzusehen. Das eigene Ich ist banal. Die eigene Lebensgeschichte ist nur eine Abfolge von Banalitäten. „Ich finde mich einfach nicht wichtig genug. Ich möchte meine Mitmenschen nicht mit meinen langweiligen Wehwehchen behelligen“ – sagt mit von Stolz geschwellter Brust die selbstlose Gemeindeschwester und läßt zustimmungsgeil ihren Blick über die zuhörenden Mitmenschen schweifen.
Herr Doktor K unterhält sich mit seinen ihn besuchenden Verwandten mit wohligem Gruseln über die Verrücktheiten und Marotten und Spinnereien längst verstorbener Vorfahren und Ahnen, in längst überholten Zeitaltern, die noch nicht so fortgeschritten und so frei und vernünftig aufgeklärt waren. Tante Anna in schwarzem Spitzenkleidchen und den Rosenkranz anbetend erscheint als Gespenst. Die Augen weit aufgerissen aus Angst vor den ewigen Höllenqualen. Sie starb kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Versündigungswahn in einer Gummizelle. Der Geist Onkel Friedrichs erscheint dem Jenseits entstiegen in blutüberströmter, zerrissener Wehrmachtsuniform. Die Hirnmassen treten aus der zerspaltenen Schädeldecke. Ein ekliger Anblick. Sein Blick flackert ganz irre vor Fanatismus und Todesangst. Er verschwindet wieder in der Versenkung. Wir nippen an unseren Weingläsern und es verbreitet sich das schaurig schöne Behagen einer Winternacht, in der man am gemütlich knisternden Kaminfeuer uralte Sagen und Balladen über längst gebannte Gespenster und gefallene Helden in längst abgerissenen Burgen an längst zugeschütteten Zauberseen vorträgt. Heute führt dort eine für unsere wirtschaftliche Entwicklung unentbehrliche Autobahn und an Stelle der Albträume der Urzeit erhebt sich dort ein von einem Pharmakonzern gesponsertes Heim für Geistigbehinderte. Herr Doktor K bewundert den Idealismus sozial engagierter, junger Leute, die dem Wohl der Menschheit dienen.
Herr Doktor K hat auch verwegene Träume von Ferne und Abenteuer. Von Flamencoklängen erfüllte, zwielichtige Hafenkneipen unter der Sonne Spaniens. Glutvolle Blicke von rassigen Zigeunerinnen, die auf Tischen mit lasziven Bewegungen tanzen, umringt von lüstern klatschenden Matrosen. Der heißblütige Süden mit seiner Unschuld. Carmen. Herr Doktor K hat in der Volkshochschule einen Kurs für Spanischkochen belegt.

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© 2022 Michael Wiedorn
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