Von Johannes Morschl
Hochverehrtes Publikum! Ich lese Ihnen heute die letzte, unvollendet gebliebene Geschichte meines vor drei Monaten verstorbenen Freundes Paul Kater vor. Er starb am 29. Juli in seiner Wohnung an einem Herzinfarkt, während er an dieser Geschichte schrieb. Er war erst 47 Jahre alt. Ich vermute, dass ihn die Ereignisse, von denen er in der Geschichte berichtet, zu stark erregt und den Herzinfarkt ausgelöst haben, denn er war ein äußerst sensibler Mensch. Wie so manche sensible Künstlernatur hatte er ein Alkoholproblem. Er war ein sogenannter Spiegeltrinker, der immer eine bestimmte Konzentration von Alkohol im Blut haben muss, um keine Entzugserscheinungen zu bekommen. Er wurde aber nie verhaltensauffällig. Im Anschluss an die Lesung von Pauls letzter Geschichte möchte ich noch kurz von einem merkwürdigen Erlebnis berichten, das ich bei seinem Begräbnis hatte und das in einem gewissen Zusammenhang mit der Geschichte steht.
Hier nun die wie gesagt unvollendet gebliebene letzte Geschichte Pauls, der er bereits einen Titel gegeben hatte, der an die berühmte Mondscheinsonate von Beethoven denken lässt:
Mondscheingroteske
Mein Name ist Paul Kater. Ich bin Schriftsteller und lebe in Berlin. Die Ereignisse, von denen ich hier berichte, mögen manchen als unglaubwürdig erscheinen, aber ich war deren Zeuge und Beteiligter. Es geschah gestern spätabends bei Vollmond. Ich wollte meine etwas seltsamen Bekannten besuchen, die sich bei schönem Wetter von abends bis in die Nacht hinein auf einer Parkbank am Rand eines großen, von Wildenten bevölkerten Teichs im Steinbergpark im Bezirk Reinickendorf aufhalten. Ich wohne etwa eine halbe Stunde zu Fuß vom Steinbergpark entfernt. Ich kenne diese seltsamen Vögel noch nicht lange, habe zwei-, dreimal mit ihnen getrunken. Sie sind um einiges älter als ich und so wie ich Alkoholiker, wobei ich aber nur sehr selten in der Öffentlichkeit trinke, sondern in der Regel zu Hause.
Als ich mich der Stelle näherte, an der sich meine seltsamen Bekannten aller Voraussicht nach aufhielten, – wobei mir der Reim einfällt, es schien der Mond so helle gerade auf diese Stelle -, sah ich den alten Fritz zwischen der alten Heidi und der alten Jenny auf der Parkbank sitzen. Heidi, eine ehemalige Kneipenbesitzerin, ist ziemlich füllig und herrisch. Sie verträgt Unmengen von Alkohol, ohne dass man ihr das besonders anmerkt. Jenny, eine ehemalige Schauspielerin, ist hingegen von sanfterem Wesen. In ihrem vom Alkohol gezeichneten Gesicht kann man noch die Schönheit erahnen, von der sie einst gewesen sein muss. Und Fritz, ein ehemaliger Grundschullehrer, sieht aus, als wäre er ein Kind geblieben, ein Kind mit schütterem weißen Haar und weißen Bartstoppeln, das nahtlos von der Muttermilch zum Alkohol übergegangen ist.
„Was machen die da für Schweinereien?“, durchfuhr es mich, als ich genauer erkennen konnte, was bei ihnen vorging. Ich blieb im dunklen Schatten der Bäume und hohen Büsche am Wegrand stehen. Ich konnte auch hören, was sie miteinander redeten, denn sie redeten ziemlich laut. Sie hatten mich noch nicht bemerkt und schienen auch garnicht darauf zu achten, ob da jemand vorbeikommen und sie sehen und hören könnte. Die Hose von Fritz war offen und Heidi hielt seinen Penis in der Hand, der offenbar nicht so richtig steif werden wollte, während Jenny aus einer Flasche, die vermutlich ein hochprozentiges Getränk beinhaltete, etwas davon auf den Penis goss und dem Penis gut zuredete, so als wäre er ein Hund: „Bist ein braver Schwanz, ein ganz lieber! Brauchst keine Angst vor Tante Jenny und Tante Heidi haben, die meinen es nur gut mit dir.“ Heidi war da forscher. Sie sagte zu dem Penis: „Stell dich nicht so an! Stell dich lieber auf! Wozu bist du denn da? So einen Schlappschwanz kann niemand gebrauchen.“ Fritz schien bereits so abgefüllt zu sein, dass er alles nur noch still über sich ergehen lassen konnte. Er wirkte so, als befände er sich innerlich ganz woanders und hätte mit dem, was die beiden mit seinem Penis veranstalteten, nichts zu tun.
Da trat plötzlich der alte Rudi aus der Dunkelheit zu ihnen, den ich zuerst gar nicht bemerkt hatte, zumal er auch von ziemlich kleinem Wuchs ist. Er war früher Angestellter bei einer Krankenkasse und wurde wegen zunehmend konfusen Verhaltens in Frührente geschickt. Das Thema Krankenkasse verfolgt ihn noch immer. Wie gewöhnlich begann er völlig wirres Zeug zu reden, an das er aber selbst zu glauben schien: „Die Mösen, die bösen, sie locken dich an, haben innen spitze Zähne, und kaum bist du drin, schnappen sie zu und ab ist der Pimmel! Wenn du genug Geld hast, kannst du ihn dir von einem Chirurgen wieder annähen lassen. Logischer Weise muss man diese OP nach jedem Besuch des Pimmels in einer Möse wiederholen. Das kostet, das können sich nur wenige leisten, nur Minister, Millionäre und Milliardäre. Ist ein höchst lukratives Geschäft für Chirurgen. Die Krankenkassen weigern sich selbstverständlich, die Kosten für solche OPs zu übernehmen. Bei den vielen Fällen, und es werden ja immer mehr, würden sie sonst schnell pleitegehen. Deshalb empfehlen sie den Männern, die keinen Pimmel mehr dran haben, einen aus Hartgummi oder Plastik zu kaufen und sich umzubinden. Der ist nicht durchzubeißen, der hält ewig. Wenn es irgendwann die Menschheit nicht mehr gibt, werden überall noch Pimmel aus Hartgummi oder Plastik auf der Erde herumliegen. Ich musste mir auch einen neuen Pimmel kaufen, musste zwei Wochen lang auf geistige Getränke verzichten, um das Geld für einen neuen Pimmel zusammenzubekommen. Das war echt hart.“ Heidi sagte trocken: „Auf diesen Verzicht hättest du getrost verzichten können. Wozu brauchst du noch einen Schwanz?“ Diesen Spruch empfand ich als verletzend, doch Rudi schien er nicht zu tangieren.
Angesichts dieser Szene beschlich mich Unbehagen. Ich dachte, wer weiß, was geschehen würde, wenn ich mich zu ihnen gesellte. Vielleicht würden dann Heidi und Jenny versuchen, sich meines Penis zu bemächtigen, in der Hoffnung, ihn in den Zustand einer Erektion bringen zu können, über die es nichts zu meckern gab. Ich wollte auf der Stelle wieder umkehren, doch da entdeckte mich Rudi. Er rief: „Was sehen meine entzündeten nachtaktiven Augen? Wer steht dort klammheimlich am Wegesrand? Das sieht aber sehr nach der bizarren Silhouette unseres undichten Dichters Paule aus! Gibt er heute den Spanner? Will er unser Sexualleben studieren, um es literarisch auszuschlachten und endlich einen Bestseller zu landen, damit er sich neue Schuhe kaufen kann und nicht mehr mit seinen alten ausgetretenen Latschen herumlaufen muss?“ Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Nun schaltete sich auch Jenny ein: „Paule, so komm doch zu uns auf die Bank! Da ist es gemütlicher, als im Dunkeln herumzustehen. Bei uns ist menschliche Wärme, da sind alle gleich, da gibt es kein Oben und Unten.“ Heidi widersprach sofort: „Das sehe ich aber anders. Ich bin ganz eindeutig oben, und ihr steht alle weit unter mir.“ Der zwischen ihnen sitzende Fritz erwachte aus seinem stillen Lächeln und sagte mit schwerer Zunge: „Ich bin ganz tief unten, tief, tief unten, tiefer geht es nicht mehr. Niemand von euch ist so tief unten wie ich und wird es auch niemals schaffen, so tief unten zu sein.“ Heidi sagte sarkastisch: „Also wenn ich mir deinen schlappen Schwanz so angucke, kann ich dir da nur zustimmen.“ Rudi ergriff Partei für Fritz, allerdings mit einer höchst sonderbaren Argumentation: „Ein schlaffer Pimmel hat durchaus seine Vorteile. Da er in diesem Zustand in keine Möse hineinkommt, kann er auch nicht böse abgebissen werden. Sollte man eigentlich überall verkünden: Bloß keine Erektion angesichts einer Möse!“ Und dann schob er nach: „Dass die Krankenkassen da noch nicht draufgekommen sind!“
Ich hatte schon gehofft, dass sie mich wieder vergessen hätten und ich mich unbemerkt zurückziehen könnte, als Jenny mir zurief: „Paule, so komm doch zu uns! Kannst dich auf meinen Schoß setzen, da ist es weicher als auf der Bank.“ Nun war es zu spät für einen Rückzug. Ich sagte mir, da musst du jetzt durch. Ich begab mich zu ihnen und wollte mich in einem gewissen Sicherheitsabstand neben Jenny setzen, doch sie zog mich sofort auf ihren Schoß und sagte: „Brauchst keine Angst vor Tante Jenny haben! Die wird ganz lieb zu dir sein.“ Dies klang für mich bedrohlich. Da intervenierte Heidi: „Hol aber ja nicht seinen Schwanz raus, denn dann hast du seinen ganz für dich alleine, und ich habe nur den Schlappen von Fritz, den ich noch dazu mit dir teilen muss.“ Jenny entgegnete: „Aber Schwester, wo denkst du hin? Bei mir gibt es keine kapitalistische Anhäufung von Schwänzen. Außerdem wäre es mir viel zu umständlich, mich sowohl um den Schwanz von Paule als auch gemeinsam mit dir um den von Fritz zu kümmern. Ich nehme mir den von Paule, und dir überlasse ich den von Fritz.“ Heidi: „Das hättest du wohl gerne! Und seit wann bin ich deine Schwester? Da scheint mir etwas entgangen zu sein. Nein, nein, wir machen das ganz anders. Ich nehme mir den Schwanz von Paule, und du kannst dich weiter an dem von Fritz versuchen, auch wenn das vergebliche Mühe sein dürfte.“ Ich wollte protestieren, weil die beiden bereits meinen Penis fest einplanten. Da funkte Rudi dazwischen: „Mir schwant, in dieser romantischen Vollmondnacht wird ein grauenvolles Unheil im Steinbergpark geschehen. Gleich zwei Pimmelbesitzer auf einmal werden ihre Pimmel verlieren, vorausgesetzt, dass ihre Pimmel den sträflichen Leichtsinn begehen, steif zu werden und sich in eine Möse einführen zu lassen. Wenn das die Krankenkassen wüssten! Die würden sofort einschreiten, um dies zu verhindern.“
Dies war für mich das Stichwort für ein Ablenkungsmanöver, um dem drohenden Zugriff auf meinen Penis zu entgehen. Ich sagte zu Rudi: „Ich glaube, hier lauern überall Agenten der Krankenkassen und beobachten uns heimlich. Ich kann sie direkt riechen.“ Rudi schnupperte in der Luft und sagte: „Paule, ich muss dich ausnahmsweise mal loben! Hast einen guten Riecher, ich rieche sie jetzt auch. Ich kenne diesen Geruch aus jahrzehntelanger Berufstätigkeit, habe früher auch so gerochen. Ich bin diesen Geruch nur durch intensiven Genuss intensiv wirkender geistiger Getränke losgeworden. Überall lauern hier Agenten, hinter jedem Baum und Gebüsch. Da gibt es für uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder ins Wasser zu springen und unterzutauchen, oder zum Angriff überzugehen und die Agenten zu verjagen. Da ich die zweite Variante bevorzuge, – schließlich ist man ja kein U-Boot -, ernenne ich hiermit Heidi zu unserer obersten Generalstabswaffe, die jeden Agenten überrollt und platt macht. Sie rollt uns wie eine Walze voran und wir folgen ihr.“ Heidi sagte zu Rudi: „Wir wollen doch nicht den lauschigen Steinbergpark zerstören! Mach das ruhig alleine, du schaffst das schon, du brauchst den Agenten nur zu erzählen, was dir so alles durch den Kopf geht, und schon ergreifen sie in Panik die Flucht.“ Jenny mischte sich ein: „Ich würde da sowieso nicht mitmachen. Ich bin überzeugte Pazifistin. Außerdem lasse ich Paule nicht von meinem Schoß runter. Ich bin schon ganz scharf darauf, seinen Schwanz
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Hier bricht der Text mitten im Satz ab. Da muss Paul den Herzinfarkt bekommen haben. Ich habe zu Beginn angekündigt, zum Schluss noch von einem merkwürdigen Erlebnis bei Pauls Begräbnis zu berichten. Ich kannte da seine letzte, unvollendet gebliebene Geschichte noch nicht, die hatte ich erst später gelesen. Bei seinem Begräbnis waren etwa dreißig Personen anwesend, die meisten Kolleginnen und Kollegen von ihm aus der schreibenden Zunft, die ich von seinen Lesungen her kannte, bei denen ich fast immer dabei war. Die anderen waren wahrscheinlich mir unbekannte Verwandte und Bekannte von ihm. Über Verwandte hatte er allerdings nie erzählt. Ich wusste nur, dass seine Eltern vor zwei Jahren kurz hintereinander gestorben waren, zuerst der Vater an einem Herzinfarkt und zwei Wochen später die Mutter an einem Schlaganfall. Es gab zwar noch einen jüngeren Bruder von ihm, der in Paris lebte, zu dem er aber keinen Kontakt mehr hatte. Der war jedoch nicht gekommen. Von dem hat er mir einmal ein Foto gezeigt, den hätte ich sicher erkannt. Und eine Partnerin von ihm war auch nicht beim Begräbnis, die gab es nicht, da er in den letzten Jahren mit keiner Frau mehr zusammen war. Davor hatte er zwar ab und zu eine Partnerin, aber das hat nie lange gehalten. Meiner Meinung nach war er beziehungsunfähig, er lebte nur für seine Schriftstellerei. Über Literatur konnte man ihn fast alles fragen, da konnte er zum Beispiel über den Selbstmord von Kleist, oder über die Spielsucht von Dostojewski, oder über den Alkoholismus von E.T.A. Hoffmann, oder über die verdrängte Homosexualität von Kafka, oder über den Bruderkonflikt zwischen Heinrich und Thomas Mann, oder über die Liebesbeziehung von Henry Miller und Anais Nin, oder über die Liebesaffären Bertolt Brechts mit Schauspielerinnen und die Rolle von Brechts Lebensgefährtin Helene Weigel dabei, oder über die sexuellen Eskapaden von Ingeborg Bachmann und ihre Liebesbeziehungen mit Paul Celan, Jacob Taubes und Max Frisch erzählen, so als wäre er dabei gewesen.
Unter den mir unbekannten Anwesenden beim Begräbnis fiel mir eine ältere Frau auf, die ziemlich verlebt aussah, aber an der man noch erkennen konnte, dass sie einst von großer Schönheit gewesen sein muss. Sie hatte eine kleine längliche goldfarbene Schachtel, um die ein schwarzes Band gebunden war, bei sich. Als sie an das offene Grab trat, murmelte sie etwas Unverständliches, küsste die Schachtel und warf sie laut schluchzend auf Pauls Sarg. Danach drehte sie sich abrupt um und verließ schnellen Schritts die Trauergemeinde. Ich sah, wie ihr ein kleingewachsener Mann hinterherlief, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte und den ich ebenfalls nicht kannte. Ich konnte gerade noch hören, wie er im Gehen einen höchst seltsamen Satz sagte: „Wenn das die Krankenkassen wüssten!“
Nachdem ich später Pauls letzte, unvollendet gebliebene Geschichte gelesen hatte, schien ich mir ziemlich sicher zu sein, dass es sich bei der Frau mit der goldfarbenen Schachtel um Jenny, und bei dem kleingewachsenen Mann um Rudi gehandelt hat. Ich kam ins Grübeln, was sich in der goldfarbenen Schachtel von Jenny befunden haben mochte. Ich ertappte mich dabei, mich in wirren Fantasien à la Rudi zu verlieren, sagte mir aber sogleich, in der Schachtel wird sich ein schöner Kugelschreiber oder ein Flachmann mit hochprozentigem Inhalt befunden haben, den Jenny Paul als Abschiedsgeschenk ins Grab mitgeben wollte. Und Rudi hat ganz einfach nur einen seiner Standardsprüche bezüglich der Krankenkassen vor sich hergesagt, wahrscheinlich, weil ihn das Begräbnis so stark mitnahm und dieser Satz wie ein beruhigendes Mantra auf ihn wirkte. Abgesehen davon hätte man bei der Obduktion von Pauls Leiche sofort bemerkt, wenn ein wesentliches Teil gefehlt hätte.
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© 2022 Johannes Morschl
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