Auf dem Steinplatz

Von Michael Wiedorn

Auf dem Steinplatz rufe ich zu Hause – bei meiner Mutter – an um mich für das von ihr überwiesene Geld zu bedanken. Die Telefonzelle steht mitten im Rasen der Grünanlagen. Die Sonne scheint. Nach beendetem Gespräch betrete ich einen großen, gepflegten Altbau um Befragungen für ein Meinungsinstitut zu machen. Dann stehe ich in einer Parterrewohnung. Später befinde ich mich in einer anderen Wohnung in einem höheren Stockwerk des Hauses. Es gibt kein Treppenhaus. In die höheren Etagen kommt man nur durch Klapptüren an der Decke. Ich durchquere einige derartige Öffnungen bis ich die oberste Wohnung erreicht habe. Ich lasse bewusst alle Klappen für einen möglichen, eiligen Rückzug offen. Die ganze Welt soll hören, was hier in den verschiedenen Räumen geschieht. Ein Bewohner mit einem Frauenkopf beobachtet lauernd aus den Augenwinkeln eine der offenen Klapptüren und scheint mein Vorhaben durchschaut zu haben.
Später stehe ich ganz oben – direkt unter dem Dachboden – in einem Flur vor einem Gemälde. Es ist in verschiedenen Grautönen gemalt. Ein gekrönter König steht stolz aufrecht in der Halle seines Schlosses. Vor ihm kniet ein Diener ehrfürchtig mit weit vorgebeugtem Rücken auf dem harten Boden. Die Gestalten sind ganz schemenhaft fast wie Halluzinationen gemalt. Im Hintergrund spiegelt sich die Szene in einem weiteren Spiegel, der sich wieder in einem anderen Spiegel spiegelt bis ins Unendliche. Jede entferntere Spiegelung ist unschärfer als die Vorhergehende. Nach vielen Abspiegelungen sieht man nur mehr eine hell beleuchtete, weiß getünchte Mauer. Es erscheint plötzlich ein Blecheimer vor dieser Wand. Ich denke an Gefängnisse. Der Teil des Korridors, in dem das Bild hängt, ist nicht so ausgeleuchtet wie der übrige Gang. Der Bewohner mit seinem Frauenkopf belauert mich. Hat er mich wiedererkannt? Ich versuche ihm aus dem Weg zu gehen.
Jetzt stehe ich in einem von unzähligen, eilenden Leuten belebten Korridor in einem Neubau. Sie sind alle recht jung. Stehe ich im Mensagebäude auf der anderen Seite des Steinplatzes?

27.6.1993

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