Der Platz im Plan

Von Max Schatz

Es lebte einmal ein Künstler. Er war ein kreativer Kopf, versuchte sich gleich in mehreren Disziplinen: schrieb Lyrik und Prosa, malte Unmengen von Bildern; auch für die Musik hatte er einen Nerv, lernte das Gitarrespielen und wurde Songwriter.
Eines Tages fand er, dass es so weit war, seine Werke anderen Menschen zu zeigen. Er fand einen anständigen Verlag für seine Gedichte und Geschichten und veröffentlichte dort ein Dutzend Bücher. Für seine Songs mietete er ein Tonstudio, um sie, wie es sich gehörte, mit eigenem Gesang und Gitarrenbegleitung aufzunehmen. Einige der Aufnahmen postete er daraufhin in Form von kurzen Videos von sich mit Gitarre in seinem sozialen Netzwerk. Die Reaktionen darauf fielen folgendermaßen aus:
„Gefällt mir“: 0.
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Erst recht wurde nichts geteilt.
Im Bekanntenkreis des Künstlers wusste man zwar – von dem einen oder anderen geselligen Abend – um sein Talent an der Gitarre und auch am Klavier. Aber so interessant war es nun auch wieder nicht, was er da sang und komponierte, um seine Videos etwas aufmerksamer anzuschauen oder gar seine eigene Reaktion darunter zu hinterlassen.
Ein Instrument spielen und singen ist einfach nichts Besonderes, fand der Künstler eine Erklärung für das Desinteresse. Das kann ja wohl jeder.
Warum dann so viele andere Musiker Tausende von Likes und Kommentaren für ihre Online-Auftritte ergatterten, blieb für ihn im Nebel. Genauer gesagt, war ihm der Unterschied zwischen ihnen und ihm zwar klar (weil sie eben bekannt waren!), aber die Exorbitanz dieses Unterschieds – sie: 100000 und mehr, er: 0 -, die war unverhältnismäßig.
Auch seine Bücher, die für akzeptable Preise online und im Buchhandel leicht verfügbar waren, kaufte buchstäblich niemand. Dabei gab es kaum schlechte Kritik, und von Eintagsfliegen konnte man bei jährlich einer Buchveröffentlichung innerhalb von zehn Jahren auch nicht sprechen.
„Deinen Schrott will ich nicht mal mit dem Finger anrühren“, hörte er sehr oft von befreundeten Leseratten. Was bedeutete: Was erdreistest du dich eigentlich, du Möchtegern-Puschkin? Du kannst doch nicht hinter jedem herlaufen und ihm dein Lesezeug unter die Nase drücken!
Und so machte der Künstler das auch nicht mehr beziehungsweise versuchte es nur noch bei den Bekannten, die Büchern wesentlich gleichgültiger gegenüberstanden. Von ihnen bekam er wenigstens so etwas wie eine Anerkennung für das, was er – ihrer Meinung nach – mit seinem Geschriebenem und sogar Vollendetem geschafft hatte. Er bettelte nicht im Sinne von „bitte lies doch mal!“, sondern bot ein Buch gleich als Geschenk an. Nahm damit in Kauf, dass er auf dessen weiteres Schicksal – ob in das Buch überhaupt mal hineingeschaut wurde oder es eher noch am selben Tag bei eBay für immerhin einen Euro zum Verkauf stand – keinen Einfluss hatte.
Doch jedes Mal platzte sogar so eine harmlose Schenkaktion. Selbst diese wohlwollenden Menschen nahmen Reißaus, sobald nur Cover oder gar Text seines Buches wie jemand ohne einen negativen Covid-Test in weniger als zwei Metern Abstand zu ihnen auftauchten. Viel häufiger jedoch kam es gar nicht dazu, sondern man flüchtete bereits in einer Unterhaltung schnellstens weg vom Bücher-Thema zu viel Wichtigerem.
Bald war sich der Künstler sicher, dass es tatsächlich seinerseits eine Frechheit sondergleichen wäre, auch noch Geld von Leuten für seine Bücher zu verlangen.
Wenn er seltene Gäste in seiner spartanischen Behausung empfing, lobten diese die eindrucksvollen Gemälde an den Wänden. Aber kaum erfuhr man, dass sie alle von ihm persönlich und nicht einem echten Künstler mit großem Namen gemalt wurden, biss man sich blitzschnell auf die Zunge. Plötzlich hieß es wieder: Ein Waschbär könnte tausendmal talentiertere Bilder hinbekommen. Und der Künstler fühlte sich unter Druck, sich rechtfertigen zu müssen: „Soll ich sie vielleicht schnell von allen Wänden entfernen, damit euer Auge nicht beleidigt wird?“
Wie kann ich wie andere Künstler die Aufmerksamkeit der Leute erarbeiten? Wie Akzeptanz erreichen, Vertrauen gewinnen? Und vor allem: Wie lange könnte ich dafür benötigen?
Nun, was die Antwort auf die letzte Frage betraf, ahnte er: Das eine oder andere Jahrhundert sollte es schon sein. Nicht umsonst schrieb man gerne unter eine Biermarke „Schon seit 1777!“ oder ähnlich. Aber kein Hersteller würde sich trauen, mit „Begeisternder Geschmack seit 2021!“ zu werben.
Und auf die erste Frage lieferte ihm das Leben selbst die beste Antwort – als er am Tiefpunkt der aus Frust durchgesoffenen Jahre auf dem morschen Boden seiner Zehn-Quadratmeter-Klause saß, eine bluttriefende, scharfzackige Scherbe von der zweiten leeren Schnapsflasche in der zittrigen Hand, und niedergeschlagen sinnierte: Gott hasst Künstler.
Vermutlich aus gewissem Neid.
Kein menschliches Wesen sollte kreativ sein wie er, der Allmächtige und Alleinschöpfende, der das Universum erschaffen hat. Und so lässt er die Betrüger zu Ruhm und Reichtum aufsteigen, die Künstler und Dichter dagegen alkoholabhängig und die Musiker drogenabhängig werden. Er lässt sie ein erbärmliches, bettelarmes Leben führen, und selbst nach den wenigen Nicht-Bettelarmen lechzt der Sensenmann mit viel stärkerem Hunger als sonst. Möglichst früh sollen sie ins Gras beißen, mit 27, mit 37, um möglichst wenig der Welt von ihren Ergüssen zu hinterlassen. Mittel, die Drecksäcke zu stoppen, gibt es dabei in Fülle. Und sei es auch eine Pandemie mit Betätigungsverboten …
Ha! Also bin ich doch irgendwo ein Künstler, egal, was man immer gemeint hat! Denn wenigstens etwas verbindet mich mit den bekanntesten, legendären Namen: Ich schicke mich gerade wie viele von ihnen selbst in den Tod.
Mit seinem letzten geposteten Selfie kurz vor dem Zerbrechen der Flasche am Boden und dem Aufschlitzen der Pulsadern hatte er sich eine unerwartete, beachtliche Aufmerksamkeit „erarbeitet“: Nie zuvor hatten nämlich so viele seiner Kontakte seinen Status angesehen. Belohnt für ihre Neugier mit der Schadenfreude, sahen sie sich gewiss schlagartig in ihrem Verdacht bestätigt, dass er seit Jahren trank.
Oh, für den einen oder anderen würde er also doch in Erinnerung bleiben. Natürlich nicht durch seine Werke in Musik, Kunst und Literatur, aber sehr wohl durch sein Säufertum.
Mit dieser durchaus aufmunternden Erkenntnis und einem Lächeln im Gesicht starb der Künstler, und erst nach einer Milliarde Jahre begriff er die Bedeutung der Worte einer lachenden Stimme in der absoluten Dunkelheit jenes Augenblicks seines Schritts über die Schwelle: „So so, ich soll also eine bestimmte Art von Sterblichen hassen, vielleicht sogar gerade die guten und frommen? Während welcher halt ein bisschen schlechter gelaufenen Inkarnation hast du diesen schrägen Eindruck von mir bekommen? Tatsache ist: Jedes Lebewesen hat seinen verdienten Platz in meinem Plan. Keines wird benachteiligt. 27, 37 Jahre oder deine ein-zwei Jahrhündertchen? Ha-ha! Mein lieber Freund, du wirst schon ein bisschen länger brauchen, um jenes ersehnte Vertrauen zu gewinnen!“
Jetzt lachte der Künstler selbst über seine damalige Naivität und Kurzsichtigkeit. Denn jetzt, etwa eine Milliarde Jahre später, wusste er, wie viel länger er tatsächlich benötigt hatte!
Aber die Geduldsprobe hatte schon seinen Sinn. Leben für Leben, Körper für Körper hatte er die Möglichkeit gehabt, wertvolle erst materielle, dann zunehmend spirituelle Erfahrungen zu sammeln, besser zu werden in seinen Fähigkeiten, sich zu vervollkommnen auf dem schier unendlichen Weg zu seiner finalen Rolle. Und so wie etwa eine Lehrerseele, die auch nach Millionen von Körpern unterschiedlichster Art, welche sie durchlaufen hat, weiterhin gerne zeigt und unterrichtet und wohl die erste ist, die an einer kosmischen Zwischenstation neu ankommenden Sterblichen freudig entgegenläuft, um ihnen während ihrer ersten Zeit dort behilflich zu sein … so will auch eine Künstlerseele immer etwas aus dem Nichts erschaffen. Allen Stoppschildern zum Trotz.
So war der Platz des Künstlers im Plan, Planeten im Weltraum zu kreieren.
Als hoch aufgestiegene Seele, selbst fast gottgleich, verfügte er über die Kraft und die Energie, ganze Himmelskörper aus dem kosmischen Staub zusammenzuballen und sie nach eigenen kreativen Vorstellungen auszugestalten. Viel niedrigere Wesen, wie auch er einst eines gewesen war, würden vielleicht darunter keineswegs einen künstlichen oder gar künstlerischen Prozess vorstellen … nun, sie wussten’s halt noch nicht.
Und alles wäre gut … Doch für seine Planeten mit ihren meisterlichen Melodien der Meere, brillanten Bildern der Berge und wundervollen Worten der Wälder interessierte sich niemand. Denn alle Blicke waren auf die Erde im Orionarm der Milchstraße gerichtet. Diese verdammte Erde! Wer immer sein Kollege war, der diesen Planeten samt dem Leben darauf erschaffen hatte – eine ähnlich weit gekommene, gottähnliche Wesenheit, die schlicht früher als er diesen Status erlangt hatte -, er hatte mit seiner Kreation ein Evergreen gelandet. Die Erde, auf der auch nach einer Milliarde Jahre immer noch die Post abging … viele rumwuselnde Spezies, immer was los. Auch viele Probleme. Doch das Negative zog eben die Aufmerksamkeit auf sich. Man kommentierte das ganze Leid mit kosmischen Likes, was das Zeug hielt.
Zahlreiche Epigonen ahmten die Erde manchmal fast eins zu eins nach. Franchises entstanden, die immer noch viel erfolgreicher waren als die einmaligen, eigenständigen … und völlig unbeachteten Schöpfungen unseres Künstlers. Der wieder ganz in Kollegenneid zerging …
Moment mal. Wie konnte er, ein höchstspiritueller Geist, der es fast bis zum Großen Attraktor, dem Sitz einer noch höheren Wesenheit, geschafft hatte, der alle negativen Eigenschaften in der Schule der vollkommenen Liebe während der unzähligen Inkarnationen abgelegt hatte, überhaupt noch Neid empfinden?
Stellte dieser Gefühlszustand etwa eine Ausnahme dar, die man bis ganz zuletzt in sich trug?
„Also hasst Gott doch die Künstler“, sagte unser Held in die einsame Stille seiner Zehn-Biquadratlichtjahre-Heimstätte.

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© 2022 Max Schatz
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