Die Höhle

Von Michael Kothe

Angst. Namenlose Angst. Anfangs hielt sie sich leicht über mich gebeugt. Mit der Zeit lernte sie, wie sie mich zur Verzweiflung brachte. Schwer presste sie sich auf mich, drückte mir die Augen zu, kroch mir in Mund und Nase und schnürte mir den Atem ab. Sie setzte sich mir auf die Brust, auf Arme und Beine und verbot mir, mich zu bewegen.

Kurz vor dem Ersticken bäumte sich mein Körper auf, ich schrie. Sand und Erde spürte ich im Rachen, ich würgte sie aus. Dämmerlicht nahm ich wahr, mein Bewusstsein kehrte zurück. Mein Körper fühlte sich geschunden an, Verletzungen stellte ich aber nicht fest. Die Erkenntnis über meine Umgebung jedoch versetzte mir einen bodenlosen Schrecken. Bodenlos? Vor Glück durfte ich reden, nicht noch tiefer gestürzt zu sein! Der Schacht setzte sich nach unten unendlich weit fort.

Ich bin keine Heldin. In meine Lage hatte mich mein Bestreben gebracht, als Hobbyarchäologin einen Erfolg vorzuweisen, ein einziges Mal nur in der Presse namentlich genannt zu werden. Immer war ich verlacht worden als die, die Sagen nachjagte und in Märchen abtauchte. Zwar berichteten jene von Schätzen, die hier draußen vergraben sein sollten, aber darauf gab ich nichts. Mir hatte es einfach das Erdloch angetan, das ich erforschen und über das ich berichten wollte.

»Licht!« schrie ich. Immer wieder. Bis mir einfiel, dass ich allein war.

Der natürliche Schlot, in den ich gestiegen war, wies eine Engstelle auf. Als ich mich dort hindurchwand, zerbrach oben das Gestänge. Durch den Ruck hatte sich wohl meine Kletterleine losgerissen. Jedenfalls stürzte ich ab und sah den Karabinerhaken am Seilende mir nachfallen und, als ich auf dem Vorsprung aufprallte, an mir vorbeistürzen, soweit die Leine ihm erlaubte. Meine Lampe fiel hinterher. Die Rufe meiner Kameraden »Wir holen Hilfe!« ermunterten mich nicht. »Warum wir?«, schrie es in mir, »sollte nicht einer an meinem Einstieg bleiben?«

Langsam wurde mir klar, dass ich auf mich selbst gestellt war. Ich lag auf dem Rücken, stemmte mich auf die Ellbogen. Ich wollte mich aufsetzen, doch stieß meine Stirn an die Decke meines Gefängnisses. »Die Leine«, fiel es mir ein, »die brauchst du noch.« Instinktiv drehte ich mich auf den Bauch und zog Hand über Hand das lose Seil ein und legte es in ordentlichen Schlingen ab. »Wozu ist es dir nütze?« meldete sich mein Unterbewusstsein, »nach oben kannst es nicht werfen.« Da war sie wieder, die Angst! Zur Untätigkeit wollte sie mich verdammen, mir jeden Gedanken an Rettung nehmen.

»Und wenn ich schon wanderte im finsteren Tal …« Gläubig war ich gewiss nicht, aber nun spendeten mir die spontan gemurmelten Worte Zuversicht. Ich konnte doch etwas tun! Langsam tastete ich meine Umgebung ab. Meine Füße offenbarten mir einen Tunnel, der von dem Vorsprung sich waagrecht in der Wand fortsetzte. Umdrehen konnte ich mich nicht, unweigerlich wäre ich von dem winzigen Sockel gestürzt. Rücklings zog ich mich mit den Fersen in die Röhre, stets bedacht, bei einem Hindernis nicht in Panik zu verfallen. Je weiter ich eindrang, desto dunkler wurde es. Nach mehreren Körperlängen fühlten meine Hände ein Ansteigen der Decke, irgendwann konnte ich mich aufrichten. Meine Erleichterung schwand schnell, als mir bewusst wurde, dass eine im Dunkel unsichtbare Spalte mich so umso leichter verschlingen konnte. Spontan ließ ich mich auf alle Viere fallen und betastete jede Handbreit, bevor ich mich vorwärtswagte. Meine Finger griffen etwas Rundes. Ich befühlte die Scheibe, führte sie an meine Zähne und erkannte sie an ihrer Festigkeit und dem flachen Relief, das ich ertastete, als Münze. Ein Schatz! Woran ich nicht geglaubt hatte, bot sich mir aus freien Stücken. Es musste der Schatz aus den Sagen sein, zumal ich weitere Münzen fand und etwas Geschmeide. Alles schob ich in meine Taschen. Euphorie trieb mich tiefer in die Finsternis.

So weit vom Schlot entfernt umschloss mich vollkommene Schwärze. Ob es Einbildung war oder ob wirklich jemand im Flüsterton zu mir sprach, war mir unmöglich festzustellen. »Willkommen«, vermeinte ich zu hören, »seit Langem hat uns niemand besucht.« Sicherlich spielte mir meine Fantasie einen Streich. Oder führte ich ein Selbstgespräch mit verteilten Rollen? »Wo bin ich? Wer seid ihr?« hörte ich mich fragen. Statt einer Antwort glaubte ich, eine Hand um meinen Arm zu spüren, die mich noch oben zog. Ich folgte und verspürte den unnachgiebigen Drang, weiter in die Höhle vorzustoßen, fort von dem letzten Bisschen Licht, das das Ende meiner Röhre als graue Scheibe erahnen ließ. Etwas zog mich, so wie jemand mit Höhenangst in den Abgrund starrt und sich hinabgesogen fühlt, beseelt von der Vorstellung springen zu müssen.

Weitere Stimmen drängten sich meiner Einbildung auf. »Komm weiter«, übersetzte mein Unterbewusstsein, »du bist in Sicherheit.« Echo erklang. Also war die Höhle weit, aber endlich. Etwas trieb mich weiter. Das Echo verstummte. Ich befand mich in einem Gang, konnte mit ausgestreckten Armen beide Wände berühren. Unter meinen Sohlen knirschte es. Von dort glaubte ich ein Wehklagen zu hören. Ich ging in die Hocke, meine Hand fuhr über den Boden. Panisch zog ich sie zurück, ich hatte Knochen berührt. »Komm weiter«, verlangte der Führer meines Unterbewusstseins, »pass auf deinen Weg auf! Die Vergangenheit fühlt Schmerz, wenn du ihre Reste zertrittst.«

»Wohin führst du mich?«

»Zu einer Erkenntnis, die sich euch Lebenden selten offenbart. Ihr kümmert euch nur um euer Jetzt oder sorgt euch um eure Zukunft. Ihr vernachlässigt eure Seele und vergesst. Hier erlangst du die Erinnerung wieder.«

Ungezählten Windungen folgte ich dem Gang und meinem Gefühl. Die Angst fiel von mir ab, Beruhigung und Neugier erfüllten mich, dazu ein nie so intensiv gespürter innerer Frieden. Kindheitserinnerungen stiegen auf, mein Toben auf der Wiese nahm ich ebenso mit den Augen wahr, wie ich den frischen Wind spürte, der mich mit dem Duft von Blumen und Wald umspülte. Meine Eltern, gestorben schon vor Jahren, saßen auf einer Picknickdecke. Ich war wieder das Mädchen, das unbeschwert das Leben genoss. Als ich den Blick hob, fand ich mich in einer riesigen Höhle. Ich folgte meinen Eltern bis in die Menge von Schemen, die sich als frühere Bekannte zu erkennen gaben. Über die Zeit hatte ich sie zum Teil schmerzlich aus den Augen verloren. Alles schien grau. Dennoch trübte die Eintönigkeit meine Freude keineswegs, sah ich doch eine bunte Welt, sobald ich die Augen schloss, und die Wiedersehensfreude überlagerte jedes Unbehagen.

»Bianca! Hörst du uns?« Dumpf klangen die Worte. Nach Ewigkeiten begriff ich ihre Bedeutung. Meine Kameraden waren zurückgekehrt, um mich hinaufzuholen. Aus der Dunkelheit zurück ins Licht!

»Kommst du wieder?« hörte ich meine Mutter fragen. Ich schluckte. Schon hatte ich mich umgedreht und hastete der Röhre entgegen, die mich zum Schlot geleitete.

»Ich bin noch hier. Es geht mir gut.«

»Wir lassen dir ein Sicherungsgeschirr herab und ziehen dich hoch. Beeil dich, die Schachtwand bröckelt schon! Lang hält sie nicht mehr, dann bricht der Schacht ein. Brauchst du noch etwas?«

»Mehr Licht«, schrie ich, »nur mehr Licht!«

Schon hörte ich die Schnallen an den Wänden schaben, sah das Riemengeschirr. Dankbar lächelte ich. Dann fuhren meine Hände in meine Taschen, zogen Münzen und Schmuck hervor und ließen sie zusammen mit den von oben herabfallenden Steinen und Erdbrocken in den Abgrund rieseln. Ich band die Taschenlampe vom Seil und tastete mich in die Höhle zurück, in meine geliebte Erinnerung.

*

© 2022 Michael Kothe
Alle Rechte vorbehalten

Mit einem alternativen Ende steht die Kurzgeschichte in der aktuellen Sammlung „Geschichten-Bowle – ein Vorlesebuch für Menschen in besonderen Lebenslagen“, an der sich der Autor auch als Lektor und Mitherausgeber beteiligte. Die gezeigte Urfassung lest ihr in Kothes „Quer Beet aufs Treppchen – 2019/2020“. Zu beiden Büchern geht’s über die Autoren-Homepage https://autor-michael-kothe.jimdofree.com/my-books/stories/.