Die Macht der Zähne

Von Michael Wiedorn

Er öffnet den Mund und seine Zähne leuchten – spitz und weiß. Jeder Mensch trägt seine Waffe im Gesicht. Kampfbereit zur Begegnung mit Mensch und Tier. Weiße, leuchtende Perlen – besser gesagt Messer – strahlen und bedrohen und dringen in das leckere Fleisch der Mitmenschen. Der Zahn leuchtet scharf. Das Weiß der Zähne im Rot des Mundinneren. Der weiße Stachel läßt rote Feuchtigkeit verströmen. Eine Lanze eingerammt ins Fleisch des Feindes.
Ein unscheinbarer, grauhäutiger und grauhaariger Mann. Ein schmächtiger Körper, der fast unsichtbar ist, aber er hat ein Maul. Einen riesigen Schlund um die ganze Welt zu verschlingen. Der Fremde auf dem Bahnsteig öffnet seine Fresse und zeigt der Welt, daß er was hat, daß er was besitzt, das für seine Mitmenschen tödlich sein kann. Seine stattliche Schnauze mit seinen gewaltigen, gewalttätigen Mordwerkzeugen sind das, was er hat. Der ganze Stolz seines Lebens liegt in den Zähnen. Nicht in den Zähnen als solches, sondern in ihrer alles zerschneidenden Schärfe. Die Waffen eines Raubtieres stoßen in Leben, lassen es bluten und reißen Steaks und Schnitzel heraus. Das Opfer schreit und schreit, verwandelt sich in einen einzigen Schrei und zerfällt in zerfließende Bruchstücke. Der Zahnarzt bewundert das Raubtier. Die Sprechstundenhilfe und die anderen Patienten mit vor Bewunderung und Neid leuchtenden Augen stehen um den Zahnarztstuhl, in dem die Kraft der Zähne sitzt.
Der Böse steht anscheinend schon seit Stunden aufrecht in der U-Bahnstation. Er ruht sich nie auf den Plastiksitzen aus und zeigt der Menschheit nur die Schärfe seines Gebisses. Ein Säugling hat keine Zähne. Er kann nicht beißen. Eines Tages spürt die Mutter harte Konturen im bis jetzt sanften Zahnfleisch. Das Kind wird zum Tier. Als ausgewachsene Männer stehen wir alle im Raubtiergehege und zeigen unsere blitzblanken Hauer. Wir stehen hinter Gittern und unsere Gebärerinnen bewundern uns. Das Tier schlägt seine Scheren ins Mittagessen – der Mensch muß sich schließlich ernähren – und reißt Sehnen und Muskeln von den Knochen seines Opfers. Mittags Rinderbraten, abends Schweineschnitzel. Die Mutter bindet ihrem Raubtier eine blütenweiße Serviette um. Die Gabel – feinstes Fadenmuster – ist ein erweitertes Gebiß.
Alte Menschen verlieren nach und nach ihre Zähne und Haare. Sie verlieren an Biß. Ein Dolch nach dem Anderen löst sich vom Körper. Läßt ihn schwächer und ohnmächtiger zurück. Greise schlürfen vorsichtig mit zitternden Händen aus Schnabeltassen lauwarme Brühe. Wieder zum unmündigen Kind geworden – verachtet und gedemütigt von den Schwestern. Weite Hauben blühen über schönen Köpfen. Die Kette weißen, zuschneidenden Porzellans. Eine Perlenkette um den Hals einer jungen Frau. Das Krachen des jungen Bisses in das Fruchtfleisch eines feuerroten Apfels. Lachen und sonnengebräunte Leiber.
Der Irre in der U-Bahnstation – grau und verkümmert – öffnet zur Sicherheit seine dünnen, vertrockneten Lippen und vergewissert sich selbst und seine Umwelt seiner leuchtenden Pracht. Heute früh kam er aus langer Gefangenschaft weißer Mauern und weißer Gespenster frei. Er hat Macht. Seine zornigen Nägel, seine hassenden Brillianten im Maul wollen heute Körper reißen. Der Verbrecher steht nur da und beobachtet die Angst in den Augen der vorbei eilenden Passanten. Sie haben wirklich Angst vor ihm. Er könnte, wenn er hätte. Hat er aber nicht. Geld für Wildbret, für Rinderherden, Löwen, Elefanten.
Zwei Herren von der Polizei nähern sich unauffällig. Sie schlendern ruhig und gemächlich wie zwei gelangweilte Sonntagsspaziergänger über den Bahnsteig. Sie beobachten aufmerksam mit geschärftem Blick – man könnte sagen – wie mit frisch geschliffenen Dolchen den Mann mit den Zähnen.
Ein Greis – Jahrtausende alt – schlürft entsahnt und verprügelt in seiner Zelle aus der Schnabeltasse. Er kann nur mehr Flüssiges zu sich nehmen. Kein Fleisch, nicht einmal Gemüse.

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