Von Henning Brüns
Der kühle Luftzug verströmte Gefahr. Nach einem frühmorgendlichen Einkauf im Treppenhaus angekommen, blieb sie vor der ersten Stufe stehen und streifte sich ihren um die Hüfte gebundenen Kaschmirpullover über, bevor sie den leidigen Aufstieg ins vierte Stockwerk in Angriff nahm. Sie musste achtgeben auf sich, durfte sich nicht fahrlässig erkälten. Die ungewohnt hochsommerlichen Temperaturen im März hatten das Innere des Altbaus noch nicht erreicht. Viel zu lange war sie „die Kranke“ gewesen. Damit musste Schluss sein. Die Treppen machten ihr aber mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen wollte. Immer wieder war eine kurze Pause nötig. Sonst hätte sie sich womöglich erst in ihrem Zimmer ausruhen müssen, bevor sie Bernhard sein Frühstück machen konnte. Endlich oben angekommen, schlüpfte sie geräuschlos in das Innere der Wohnung und bemühte sich rasch wieder zu Atem zu kommen. Nicht, dass er sie wieder anblaffte, wie neulich, als sie verschlafen hatte, was sonst nie vorkam. „Du hast doch eigentlich nichts wichtiges zu tun, schaffst du nicht mal mehr diese Kleinigkeit?“
In der Ferne des Wohnzimmers hörte sie ein durchdringend hohles Klackern, als ob metallische Gegenstände achtlos auf der Glasplatte des Esstisches hin und her bewegt würden. Bernhard hatte noch nicht den Rückzug in sein Arbeitszimmer angetreten, um sich mit der Revision seiner Werke zu beschäftigen. Ohne sein Frühstück war daran eigentlich ohnehin nicht zu denken. Eine dunkle Ahnung über den Gegenstand seiner Beschäftigung ließ sie innehalten, als sie die Küche betrat. Der wenig verheißungsvolle, scharfe Geruch seines Waffenöls hing in der Luft. Warum ausgerechnet heute, fragte sie sich. Sie legte den Jutebeutel mit den Einkäufen auf den kleinen, quadratischen Küchentisch am Fenster und warf einen Ausspähblick ins Wohnzimmer, indem sie die leise nörgelnde Schwingtür, die beide Räume verband, mit der rechten Hand vorsichtig öffnete. Nur einen kleinen Spalt. Sie wollte auf keinen Fall stören.
Bernhard saß am Esstisch und reinigte seine Pistole, eine der wenigen persönlichen Hinterlassenschaften seines Vaters, eines Oberst der Bundeswehr, der sich mit dieser Knarre, wie sie das abscheuliche Ding nannte, das Leben genommen hatte. Von dem Tag an war ihm allein die traumatisierte Mutter geblieben, die bei seiner Geburt mit ihren fünfzehn Jahren selbst noch ein Kind gewesen war. Ein Waisenkind. Ihre Eltern waren erst wenige Tage zuvor im Feuersturm über Hamburg umgekommen, als sie Bernhards Vater, wegen einer Verletzung am Rückgrat auf Heimaturlaub, in der verwüsteten Hansestadt kennengelernt hatte. Unverzüglich nach dem ersten Kuss hatte sie der Oberst, der zu der Zeit noch Hauptmann gewesen war, in einem Luftschutzkeller geschwängert und dann, als die Engländer an der Alster flanierten, ohne Widerstand zu leisten auch geheiratet. Für diese unglückliche Person und ihr Balg zu sorgen, hatte er für seine Pflicht gehalten.
Ansonsten wusste sie wenig über seine Familie. Bis auf wenige Ausrutscher, wenn Bernhard dem Alkohol stärker zugesprochen hatte, als ihm guttat, war er dem Thema hartnäckig aus dem Weg gegangen, auch seinem Wölkchen gegenüber, die ihre Großmutter von den kürzesten Kindesbeinen an lieber aus der Ferne wie ein fremdartiges, exotisches Tier beobachtet hatte, als ihr unnötig zu nahe zu kommen. Die Oma ist kaputt, hatte Wölkchen schon mit drei Jahren nach einem der seltenen Besuche in der Anstalt zu ihr gesagt, aber nur zu ihr, damit ihr geliebter Bibo es nicht hörte und schimpfte.
Nur alle Jubeljahre kramte Bernhard die Knarre seines Vaters hervor. Gewöhnlich hielt er sie in einem abschließbaren Fach seines Schreibtischs in einer eigens dafür angefertigten Holzkiste versteckt. Seine jeweils frisch aufgetischte Behauptung, die Knarre müsse gereinigt werden, damit sie funktionstüchtig bleibe, machte für sie keinen Sinn, denn soweit sie wusste, hatte niemand vor, das abscheuliche Ding jemals zu benutzen. Da er um ihre Ablehnung wusste und einen neuerlichen Vortrag ihrer Argumente vermeiden wollte, reinigte er die Knarre nur mehr, wenn sie nicht zu Hause war und am liebsten sogar, wenn sie für längere Zeit ausblieb, zum Beispiel mit Paula zum Kino verabredet war und nicht nur wie heute, um die für Bernhards Frühstück unerlässliche Tageszeitung zu besorgen, die zum wiederholten Mal in dieser Woche nicht im Briefkasten gelegen hatte.
Offenbar habe ich mich völlig unnötig beeilt, dachte sie. Dermaßen vertieft in seine morbide Zeremonie schien er sie jedenfalls nicht bemerken zu wollen. Die schlechten Nachrichten behielt sie darum zunächst für sich und ließ die Tür zurück in ihr Gleichgewicht schwingen. Am besten kein Wort darüber verlieren, sagte sie sich. Er würde auch diesen Tag ohne seine Tageszeitung überleben. Sie setzte Teewasser auf und bereitete sein Frühstück vor. Toast, Käse, Marmelade. Sie hörte das auffällige Klicken der Kugeltrommel, als sie ins Gelenk einrastete. Nun dürfte er fertig sein, dachte sie. Sie stellte alles auf ein Tablett und öffnete schwungvoll die Durchgangstür. Er war gerade dabei die Knarre zu laden, als sie den Raum betrat. Woher hatte er die Patronen? Sie hatte ihn noch nie mit Munition hantieren sehen.
Ohne darüber eine Bemerkung zu verlieren und ohne zu vergessen, sich selbst für ihre Geistesgegenwart zu loben, begann sie auf einem der gestickten Platzdeckchen seiner Mutter sein Frühstück einzudecken, nicht anders als an jedem anderen Wochentag. Rings um einen Porzellanteller standen in regelmäßigen Abständen voneinander eine Schale Kirschmarmelade, ein kleiner Teller mit einem Stück Manchego, eine Schale Butter sowie der spiegelnde Toastständer aus Edelstahl mit mehreren dunkelbraun gebackenen Dinkeltoasts. Rechts vom Teller stand die schlanke Teetasse korrekt mittig platziert auf einer Untertasse, aus dem selben edlen weißen Porzellan wie der Teller und die Untertasse.
Der Darjeeling fehlte. Dennoch eilte sie nicht umgehend zurück in die Küche. Der Anblick der Munition hatte sie beunruhigt. Sie ging um den Tisch herum, stellte sich direkt neben ihn, blickte in seinen schlecht ausrasierten Nacken und fragte, ob er die Knarre nicht weglegen wolle, sein Frühstück sei fertig. Er antwortete nicht, er starrte nur stur geradeaus an ihr vorbei auf die goldene Wanduhr, deren Sekundenzeiger unermüdlich vor sich hin tickte. Die Uhr war ein Geschenk seiner Mutter zu seinem vorigen Geburtstag gewesen. Damit er immer wisse, was die Stunde geschlagen hat, hatte sie auf die Karte geschrieben. Wenige Tage danach war sie gestorben. Altersschwäche, hatte der Pfleger gesagt. Verhungert, lautete Bernhards Diagnose.
Er schien in aller Seelenruhe auf etwas zu warten, rührte sich nicht und sprach kein Wort. Er ähnelt einem japanischen Samurai vor dem Seppuku, dachte sie. Bei Paula, ihrer Schwester mit dem Japan-Fimmel, hatte sie mehrere historische Abbildungen zu dem Thema in einem Buch über den in Japan ebenso berühmten wie umstrittenen Autor Mishima gesehen, der auf diese Weise Selbstmord begangen hatte. Der Gedanke machte ihr Angst. Sie blickte von ihm zur Uhr und zurück. Was hatte das zu bedeuten? Spielte er eines seiner bösen Spiele mit ihr? Er hatte die Knarre in der Hand, die Hand ruhte entspannt auf seinem rechten Oberschenkel. Dann mit einem Mal, als würde er unmittelbar einem unausgesprochenen, inneren Befehl folgen, hob er die Hand mitsamt der Waffe und legte sie vor sich auf die Tischplatte, auf der ein grünliches Tuch ausgebreitet war, das er gewöhnlich zum Putzen benutzte. Ohne dass sich an seinem eingefrorenen Gesichtsausdruck etwas änderte, begann er zu sprechen, stockte nach wenigen Lauten aber wieder, misstrauisch, ob die kläglichen Worte aus seinem Mund tatsächlich die seinen waren.
Weitere Sekunden, die sich in ihrer Erinnerung ins Endlose ausdehnten, vergingen. Untätig und unfähig seinem Tun einen klaren Gedanken entgegen zu setzen, hörte sie ihn von neuem, ohne eines seiner kranken Worte zu begreifen. Stoisch kalt sprach an ihr, die sich unmittelbar neben ihm befand und nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um dem übel riechenden Entsetzen ein Ende zu machen, vorbei, als wäre sie nicht die allzeit bereite Gefährtin und Geliebte seines Lebens, sondern nur ein wahlloser Gegenstand, einer seiner namenlosen Habseligkeiten, wie er sie in diesem Augenblick ausdrücklich nannte, welche ihm zeitlebens im Weg gestanden hätten, wie er stocksteif abweisend behauptete, um seine Existenz mit ihrem Ballast in die Knie zu zwingen. Das einzige, was sie selbst in diesem Moment spürte, war das tiefe, abgründige Vereisen in ihm, als wäre er sein eigener Auftragsmörder.
„Das ist keine Knarre“, sagte er nach einer grausamen Pause ebenso maskenhaft wie zuvor, „das ist eine Selbstladepistole, eine Walter PPK 765. Meinem Vater hat sie zuverlässig gedient. Du bist zu jung, du hast die Jahre nach dem Krieg nicht miterlebt. Du hast nicht miterlebt, unter welchen inneren Qualen er meine Mutter durchbringen musste, indem er in die Nachfolgeorganisation der Wehrmacht eingetreten ist, weil man ihn unbedingt dabeihaben wollte und das, obwohl ihm das Militär verhasst war nach seinen Erlebnissen in diesem widerwärtigsten aller Kriege. In La Rochelle hatten die Nazis viele unschuldige Leute ermordet. Auch er hatte unschuldige Leute ermordet, Leute vom Widerstand, Leute von der Straße, irgendwelche Leute, die sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufhielten. Vergeltungsmaßnahmen gegen die Résistance. Der Bürgermeister hatte die Leute auszusuchen, egal wie, egal wen, und er, der Hauptmann, hatte dem Hinrichtungskommando die Befehle zu geben. Er fühlte sich schuldig, verstehst du, als wäre er ein lausiger Verbrecher, und er wollte es wieder gutmachen. Aber er schaffte es nicht, er war zu kaputt. Und ich schaffe es auch nicht, ich bin auch …“ Gerade als sie ihm ins Wort fallen wollte, um einzuwenden, diese fürchterliche Geschichte müsse gewiss nicht vor dem Frühstück aufgewärmt werden, und überhaupt was … fiel ein Schuss, der das Gelärme der Warnsignale in ihr übertönte und jede Erinnerung an ihre unbedachte Handgreiflichkeit auslöschte.
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© 2022 Henning Brüns
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