Von Michael Wiedorn
Um fünf Uhr Nachmittag verließ er das Haus. Nachdem er hinter sich die Haustüre ins Schloß kippen ließ, blieb er stehen, sah auf die Straße in die Regentropfen. Er sah nicht aus, als hätte er große Lust auszugehen. Das Straßenpflaster glänzte naß im Regen. Eine abfahrende Straßenbahn klingelte. Frau Müller kam an ihm vorbei und wollte die Haustüre aufschließen. „Guten Tag“ – grüßte sie ihn. „Tach“ -antwortete er nur kurz angebunden. Es war ihm peinlich so unentschlossen am Eingang zu stehen. Er lief mit hastigem Schritt links ab. Er hätte auch rechts abgehen können. Angst packte ihn. Der Himmel leuchtete nicht rot. Schwarze Wolken senkten sich auf das Land.
Die grauen Hausfassaden verfielen. „Nieder mit den Kriechern“ – dachte er sich jetzt und verstand sich selbst nicht. Er lief jetzt in einem ihm fremden Viertel. Die Kinder waren hier alle gelb im Gesicht. Es war das Fieber aus den Sümpfen. Ein Kind sprang ihn an. Das zarte Kinderbeinchen knallte gegen das Schienbein des Fremden und das Kind lachte dabei fröhlich. Der Mann warf dem Kleinen Zuckerstückchen ins offene Mäulchen und der Kleine war brav wie ein Lamm. Es lag in seinen Armen und blökte. Der Spaziergänger streichelte das Tier. Sein schwarzer Hund, den er jetzt zum ersten Mal in seinem Leben wahrnahm, zog bedrohlich knurrend hinter ihm her. Frau Müller kam vorbei und grüßte: „Guten Tag“. Der abweisende Nachbar versuchte sie erfolgreich zu ignorieren, denn sie war plötzlich verschwunden. „Wie können Kriege explodieren?“ – ging ihm durch den Kopf. Seine Arme waren jetzt frei. Er konnte sich gar nicht erinnern jemals etwas in den Armen getragen zu haben. Rot – rot war die Straße. Der Asphalt und die Mauern. Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Ihm fiel wieder der schwarze Hund ein, der treu hinter ihm her trottete. Das Gesicht des Hundes war zu einer Fratze verzerrt. Es ist der Kampf, der die Backen rötet, die Lippen schminkt. Der Spaziergänger, der sich in den Hund verwandelt hatte, fühlte sich jetzt jung und entschlossen. Er ging Gassi mit einem langweiligen, älteren Herrn, der vor ihm die Straße herabtänzelte, als wäre er beschwipst. „Die Wälder wogen im feuerroten Wind“ – dachte der Köter. „Feuerrot der Trachtenhut“. Die Straßenbahn klingelte nicht mehr. Sie stand ausgebrannt am Straßenrand. Schwarz wie Kohle. „Wie können Kriege explodieren?“ Ein Fernseher stand eingeschaltet auf dem Bordstein. Auf dem Bildschirm wuchs eine Feuerwand über einer Wüste.
Der ältere Herr lief die Straße weiter. Er betrat einen Supermarkt. Überlegte es sich anders und verließ ihn wieder. Bereitwillig öffneten sich die Türen automatisch. Wieder stand er auf der Straße. Er hatte heute Nacht so schlecht geschlafen. Die Träume greifen dann in den Tag hinein. Ihm fiel jetzt ein, daß er heute noch ins Büro muß. Es war jetzt später Nachmittag. Es regnete schon lange nicht mehr. Die Straße war noch feucht. Für das Büro war es jetzt zu spät. „Walter fügt das – Kaiser“ – hörte er jemanden rufen. Der Kaiser ist abgedankt. Schon vor langem. Die römischen Kaiser hatten ein riesiges Gebiet von England bis Kuweit beherrscht. Bis nach Kuweit – dachte er beeindruckt. Glühend heiße Sonne brannte auf Wüstensand. Er haßte es, wenn im Sommer die Sonne so prall und stechend auf seinen Schädel knallt. Frau Müller überreichte ihm – beziehungsweise versuchte sie es – ein Glas brühend heißen Tee. Geringschätzig blickte er das Teeglas an. Was soll er hier in der Hitze mit heißen Getränken. Frau Müller vertrocknete auf einem Werbeplakat zu einer Abbildung auf farbigem Papier. Sie stellte eine lächelnde, junge Frau auf einer Bierwerbung dar. Kaltes Bier wäre jetzt das Richtige. Ein Glas mit eiskaltem, süffigem Bier.
Der Mann stand jetzt ganz unschlüssig auf dem Bürgersteig. Die Passanten drängelten sich ungeduldig an ihm vorbei. Er wußte nur, für das Büro war es endgültig zu spät. Er wußte nur, zu Hause fällt ihm die Decke auf den Kopf. Er war ein orientierungsloser Jugendlicher und mußte jetzt lächeln, sah in einem Spiegel sich selbst als Jugendlichen. Schon angegrautes Haar, beiger Kamelhaarmantel, Melone auf dem Kopf. Sogar die Rollatorfahrer aus dem Altenheim grinsten. Eine große, starke Hand senkte sich aus den Wolken und packte seine kleine, klitzekleine Greisenhand und beabsichtigte ihn ins Erwachsenenleben einzuführen. Eine überdimensionale Hand eines Trainers. Der schwarze Hund sah erstaunt zu seinem Herrchen auf. Der Hund hatte die Feuersbrunst, die nie stattfand, überlebt. Das Tier hatte wieder seine gewöhnliche, niedliche Hundeschnauze. Es freute sich darüber und über die Gegenwart seines Herrchens und es wedelte mit seinem Schwanz. Das Herrchen hatte sich im Laufe des Spazierganges an seinen Status als Hundehalter gewöhnt. Der Spaziergänger dachte nur – „hoffentlich löst sich der Hund nicht plötzlich in Luft auf oder entpuppt sich als Frau Müller“. Die Straßenbahn kam an und hielt. Die Türen öffneten sich. Er stieg ein, löste eine Fahrkarte und setzte sich auf einen Sitz direkt am Fenster. Er hatte es sich bequem gemacht. Die Straßenbahn klingelte und fuhr los. Die Straßenbahn war nur halb voll. Es regnete wieder. Ein richtiger Platzregen. Man hörte es gegen das Metall der Straßenbahn klappern. Der Mann lehnte sich behaglich auf seinem Sitz zurück, streckte seine Beine aus und stieß dabei voller Wucht an den Fuß eines vor ihm sitzenden Fahrgastes. Plötzlich drehte der sich mit wutverzerrtem Gesicht zu ihm um. Der Fahrgast trug eine grauenerregende Hundefratze statt eines Gesichtes. Rot – brennend rot ist das Feuer – der Haß des Feuers. Unser älterer Herr erinnerte sich an sein Viech. „Der Hund ist weg! Der Hund ist weg!“- bemerkte er jetzt und zog eingeschüchtert seine behaglich ausgestreckten Beine ein. Er mußte schnell aussteigen. Er sprang von seinem Sitz hoch wie von der Tarantel gestochen.
Er ist zu Hause. Vom Nachttisch nimmt er das Glas Tee und wundert sich, daß der Tee noch so heiß ist. Der Regen knallt gegen die Fensterscheiben. Die Straßenbahn fährt weiter. Rot ist der Haß des Feuers. Er fällt.
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© 2022 Michael Wiedorn
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