Von Michael Wiedorn
Eine Dogge hat ihr Gebiss in ein menschliches Gesicht geschlagen. Sie schäumt vor Hass. Sie kann ihr Beißwerkzeug nicht mehr von ihrem Opfer lösen. Ihr Opfer ist ein einsamer Spaziergänger, dessen Gesichtsfläche nur mehr noch ein quellendes, leuchtend rotes Nass ist. Dieser ehemalige Mensch hat kein Alter und kein Geschlecht mehr. Ein brüllendes, namenloses Etwas wälzt sich ruhelos auf dem Erdboden. Der Februarmorgen in der Hirschau ist eiskalt. Es sind weit und breit keine anderen Menschen zu sehen. Es ist Sonntag. Die Dogge hat sich selbst in ihrem Rausch verfangen. Sie verzweifelt. Ein einsam herumstreunendes Tier, für das niemand die Verantwortung trägt. In seiner Verzweiflung und seiner Angst seine Zähne nicht mehr vom fremden Körper lösen zu können, hebt es kurz den Rumpf des Menschen etwas vom Boden. Die Schreie des Mannes sind längst verstummt. Eine geduldige Puppe. Die Kampfszenen bestehen aus heftigen, lautlosen Bewegungen. Alles ist nass und dunkel.
Ich beobachte die Szene aus der Ferne wie einen Fernsehkrimi. Ein interessantes Spiel und ich entferne mich nicht eilig, sondern ruhig und gemächlich. Ich bin ein Spaziergänger. Mir ist kalt und ich strebe zum Bus, der mich sicher nach Hause bringen wird. Es ist mir die ganze Zeit nicht im geringsten eingefallen in irgendeiner Weise einzugreifen. Ich habe einfach nicht daran gedacht. Ich bin ein Schlafwandler in einem tiefen Traum. Erst am späten Nachmittag wird mir die Schuld bewusst.
März 2007
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